Quellen zur Geschichte der Juden im Elsass (1273–1347). Zur Einführung (von Gerd Mentgen)

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Wer heute in einer Straßburger Buchhandlung Literatur zur rund 400 Jahre währenden Geschichte des elsässischen Judentums im Mittelalter sucht, wird höchstwahrscheinlich auf eine 1975 erschienene Reprint-Ausgabe der „Histoire des Juifs d’Alsace“ verwiesen, die der aus Hagenau stammende langjährige Mitarbeiter von Baron Edmond de Rothschild, Élie Scheid (1841–1922), ursprünglich im Jahr 1887 zum Druck gegeben hat.1) Das Besondere an diesem Werk ist, dass es sich nicht nur um die erste einschlägige Gesamtdarstellung handelt, sondern dass es auch mit einem Quellenanhang versehen wurde, der 56 Dokumente umfasst, von denen sich 31 Stücke dem Mittelalter zurechnen lassen, wenn man – in Anlehnung an die Germania Judaica 3 – im Jahr 1519 eine entsprechende Grenze setzen will. Sie entstammten und entstammen den Stadtarchiven von Colmar, Mülhausen, Münster im Gregoriental, Oberehnheim, Rufach, Schlettstadt und Straßburg sowie in einem Fall auch den Beständen der Straßburger Archives départementales du Bas-Rhin. Einige Jahre zuvor hatte Scheid bereits einem mehrteiligen Aufsatz zur Geschichte der Hagenauer Juden Transkriptionen einiger Quellen beigefügt.2) Obwohl er mit der Aufgabe einer präzisen Wiedergabe seiner mittelhochdeutschen Vorlagen stark überfordert war, markierte Scheids Tätigkeit doch den Beginn der Edition ungedruckter elsässischer Archivalien mit Judenbetreffen, die über die Veröffentlichung von Einzelstücken in verschiedenen Zusammenhängen hinausging.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich vor allem der aus dem südwestlich von Colmar gelegenen Dorf Hattstatt gebürtige Rabbiner und Historiker Moses Ginsburger (1865–1949) mit der Geschichte der elsässischen Judengemeinden beschäftigt, einschließlich der wohl ältesten und bedeutendsten in Straßburg3), die freilich – nach einem ersten Versuch von 18944)  – schon 1924 von Alfred Glaser5)  sowie um dieselbe Zeit von Max Ephraim  in einer wissenschaftlichen Standards genügenden Form behandelt worden war. Eine juristische Dissertation von Jacqueline Rochette, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unter dem Titel „Histoire des Juifs d’Alsace. Des origines à la Révolution“ in Paris erschienen6) , kann zumindest hinsichtlich des Mittelalter-Teils keinen wissenschaftlichen Wert beanspruchen, da die Autorin keine eigenständige Quellenarbeit geleistet, sondern mehr oder weniger plagiatorisch gearbeitet hat.

Moses Ginsburger, dessen Forschungen sich stark auf das Mittelalter konzentrierten, hat unsere Kenntnis der relevanten Textzeugnisse auf eine neue Grundlage gestellt, was seinen Niederschlag vor allem in den 44 Beiträgen zum Elsass gefunden hat, mit denen er sich an dem Überblickswerk Germania Judaica 2 beteiligte, das die Zeit von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts behandelt.7)  Die von ihm eruierten relevanten Archivalien und gedruckten Quellen stellten die diesbezügliche „Ausbeute“ von Scheid in den Schatten und speisten sich nunmehr unter anderem (wenngleich in bescheidenem Umfang) aus den Fonds beider elsässischer Departementalarchive, aber darüber hinaus auch aus Beständen, die nicht im Elsass lagern. Begreiflicherweise konnten allerdings weder Ginsburger selbst noch der nach dessen Tod für die endgültige Gestalt seiner Artikel verantwortliche Herausgeber der Germania Judaica, Zvi Avneri, das überlieferte Material für den ausgewählten ersten Bearbeitungszeitraum des „Corpus-Projekts“ der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur (1273–1347) vollständig sichten und auswerten. Für meine im Jahr 1995 vorgelegten „Studien zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Elsaß“ habe ich – nicht zuletzt aufgrund wertvoller Hinweise des bis vor seiner Pensionierung im Sommer 2013 im Straßburger Stadtarchiv tätigen Mediävisten Bernhard Metz, dem ich an dieser Stelle für seine wertvolle Hilfe auch in jüngster Zeit abermals meinen Dank bekunden möchte – daher weiteres, der Judenforschung bis dahin unbekannt gebliebenes Quellenmaterial herangezogen, das nunmehr im Rahmen des „Teilcorpus Elsass“ erstmals entweder ediert oder in Form ausführlicher Regesten publiziert wird.

In den seitdem vergangenen 18 Jahren sind zwar für die Untersuchungsperiode nur noch vereinzelt neue „Judenquellen“ bekannt geworden, darunter jedoch durchaus bedeutsame, wie etwa ein lange Zeit unbeachtetes Dokument aus dem Süden des Elsass, das unter anderem auf einen um 1324 existenten jüdischen Begräbnisplatz in Altmünsterol schließen lässt.8) Insgesamt schöpft das vorliegende Teilcorpus aus den Beständen von 35 Archiven und Bibliotheken; über 70 Urkunden werden hier erstmals im Volltext ediert. Insgesamt umfasst die Sammlung beinahe 300 Nummern, die ergänzt werden von 31 historiographischen Quellen und 21 Inschriften von Grabsteinen9) , für deren Bearbeitung Corpus-Mitherausgeber Dr. Jörg Müller bzw. Sarah Jochum und Maxim Novak verantwortlich zeichnen. Letzterer hat zusammen mit Andreas Lehnertz zudem die hebräischen Rückvermerke einzelner Urkunden transkribiert und übersetzt, wofür beiden Herren an dieser Stelle ebenso herzlich gedankt sei wie Dr. Anne Holtmann-Mares für ihre philologische Unterstützung. Insgesamt erweist sich das Teilcorpus als eines der umfangreichsten derjenigen des Gesamt-Projekts, deren Inhalt sich auf nichtserielle Quellen beschränkt, da solche auch aus den großen Kommunen und bedeutenden Verwaltungen aus der Untersuchungsperiode bedauerlicherweise nicht überliefert sind.10)  Anders als die meisten anderen Teilcorpora deckt das vorliegende räumlich nicht nur das Gebiet einer Diözese ab, sondern umfasst die Bistümer Basel (Ober-Elsass) und Straßburg (Unter-Elsass), wobei die wenigen rechtsrheinischen Orte, für die eine jüdische Präsenz zwischen 1273 und 1347 belegt ist, ebenfalls berücksichtigt wurden.

Die „Königsnähe“ des Elsass im Mittelalter aufgrund der dortigen Reichslandvogtei mit dem Zentrum Hagenau und der weiteren über Ober- und Unter-Elsass verteilten Reichsstädte spiegelt sich unter anderem darin wider, das immerhin 16 Urkunden des Teilcorpus aus der Kanzlei König bzw. Kaiser Ludwigs des Bayern stammen. Hinzu kommen allein aus dem Jahr 1347 acht weitere Urkunden, die entweder von Karl IV. selbst oder dem Straßburger Domdekan Johann von Lichtenberg in seinem Auftrag ausgestellt wurden. Mit Karls mächtigem Großonkel Erzbischof Balduin von Trier muss ein herausragendes Mitglied der Straßburger Judengemeinde vor 1349, Vivelin der Rote, unter nicht näher bekannten Umständen einen so engen Kontakt geknüpft haben, dass er für ihn unter anderem wichtige Missionen zu König Eduard III. von England durchführte, als dieser zu Beginn des Hundertjährigen Krieges in Antwerpen residierte. Alle bislang bekannt gewordenen Quellen, die Vivelin den Roten erwähnen, finden sich – gleichsam als nachträgliche Dokumentation zu einem Aufsatz des Verfassers über diesen und einen weiteren Akteur der zeitgenössischen Hochfinanz aus dem Elsass11)  – ebenfalls im Teilcorpus einschließlich mehrerer erstedierter Urkunden.

Die Bedeutung der Juden für die Geschichte des spätmittelalterlichen Elsass wird leider – ungeachtet beispielsweise der Aktivitäten der traditionsreichen „Société d‘Histoire des Israélites d’Alsace et de Lorraine“ – trotz der vorliegenden Spezialliteratur immer noch nicht überall in ausreichendem Maße gewürdigt. So hat etwa ein angesehener elsässischer Landeshistoriker in einer 2012 erschienenen „Geschichte des Elsass“ die Juden der mittelalterlichen Zeit lediglich im Zusammenhang mit den Verfolgungen von 1349 erwähnt und diesbezüglich die befremdliche Feststellung getroffen: „Am Ende waren die seit dem 11. Jahrhundert bestehenden jüdischen Gemeinden in den Städten ausgelöscht. Von jetzt an bis 1789 lebten die elsässischen Juden nun auf dem Land.“12)  Angesichts dessen, dass selbst im 16. Jahrhundert noch Juden beispielsweise in Mülhausen, Hagenau oder Colmar wohnten – ganz zu schweigen etwa von Bergheim oder Rosheim –, ist diese Aussage völlig unverständlich.

  1. Dies gilt zumindest noch zum jetzigen Zeitpunkt (September 2013), solange der als Ortslexikon angelegte Elsass-Band der „Nouvelle Gallia Judaica“ aus der Feder von Professor Simon Schwarzfuchs, Jerusalem, noch nicht erschienen ist, dessen Manuskriptfassung vor einigen Monaten fertiggestellt werden konnte. Zur Historiographiegeschichte bezüglich der Juden im Elsass vgl. im übrigen Weill, Juifs (1980) »
  2. Scheid, Histoire (1881), enthält neun „pièces justificatives“ aus dem Hagenauer Stadtarchiv aus dem Zeitraum 1262–1389. »
  3. Ginsburger, Juden in Rufach (1906), Ders., Première communauté (1938), Ders., Juifs à Munster (1939), Ders., Juifs à Ribeauvillé (1939); Ders., Première communauté (1946). »
  4. Glaser, Geschichte (1894). »
  5. Glaser, Geschichte 1 (1924). »
  6. Rochette, Condition (1938) bzw. Dies., Histoire (1938). »
  7. Im Einzelnen handelt es sich um die Orts- bzw. Gebietsartikel: Altkirch, Benfeld, Bergheim, Bischweiler, Elsass, Ensisheim, Erstein, Florimont, Gebweiler, Hagenau, Herlisheim, Kaysersberg, Kestenholz, Kolmar (Colmar), Markolsheim, Masmünster, Maursmünster, Molsheim, Mülhausen, Münster im Gregoriental, Mutzig, Neuweiler, Oberehnheim, Pfirt, Rappoltsweiler, Reichenweier, Rheinau, Rodern, Rosheim, Rougemont-le-Château, Rufach, St. Pilt, Schlettstadt, Sennheim, Straßburg, Sulz, Sulz unterm Wald, Thann, Türkheim, Wattweiler, Weißenburg, Wörth, Zabern und Zellenberg. »
  8. Colmar, ADHR, 1 C 8548 (EL01, Nr. 114). »
  9. Nicht aufgenommen wurden dabei die leider nicht wissenschaftlich untersuchten, im Jahr 1992 von den israelischen Architekturstudenten Sigal Elkis und Ayala Lev systematisch freigelegten Grabsteine bzw. Inschriften, die sich entweder vor einer der Außenseiten der alten Stadtmauer von Neuweiler im Unter-Elsass (Neuwiller-lès-Saverne) oder in dieselbe eingemauert finden, leider undatiert sind und wohl kaum aus dem 14., geschweige denn 13. Jahrhundert stammen; vgl. einstweilen die mir freundlicherweise von Professor Simon Schwarzfuchs in Jerusalem zur Verfügung gestellte Broschüre von Weil, Gilbert, Remparts de Neuwiller-lès Saverne (Alsace). L’énigme des graffitis hébraïques, o. O. 1995 (erhältlich über die Mairie de Neuwiller-lès-Saverne). »
  10. Um das Teilcorpus nicht unnötig aufzublähen wurden die zahlreichen Straßburger Urkunden, die lediglich die dortige Judengasse erwähnen, ohne diesbezüglich mit interessanten Informationen aufzuwarten, nicht aufgenommen. »
  11. Mentgen, Finanziers (1996). »
  12. Vogler, Geschichte (2012), S. 66. »
Zitierhinweis

Mentgen, Gerd, Quellen zur Geschichte der Juden im Elsass (1237–1347). Zur Einführung, in: Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg.v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2014,
URL: http://www.medieval-ashkenaz.org/EL01/einleitung.html (Datum des Zugriffs)