Quellen zur Geschichte der Juden in den schwäbischen Reichsstädten Esslingen, Nördlingen und Ulm (1273–1347). Eine Einführung (von Christian Scholl)

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Das Quellencorpus zur Geschichte der Juden in den drei schwäbischen Reichsstädten Esslingen, Nördlingen und Ulm erscheint als Vorstufe zu einem Corpus, der den gesamten schwäbischen Raum abdecken soll. Die drei Städte wurden ausgewählt, da die dortigen Judengemeinden neben Augsburg zu den ältesten und größten Gemeinden in Schwaben gehörten. Im Vergleich zum restlichen schwäbischen Raum ist die Quellenlage in den drei Städten zwischen 1273 und 1347 als günstig zu beurteilen; allerdings sind aus dieser Zeit – im Gegensatz etwa zur schwäbischen Kathedralstadt Augsburg – keine seriellen Quellen erhalten1), so dass Urkunden die aufschlussreichste Quellengattung für die Geschichte der Juden in den drei Städten zwischen 1273 und 1347 darstellen. Erst für die Zeit nach den Pestverfolgungen ist neben den Urkunden eine Fülle von seriellen Quellen überliefert, die Informationen zur Geschichte der Juden enthalten. Die ersten für die hier untersuchten Städte relevanten seriellen Quellen sind die ab 1360 überlieferten Steuerbücher aus Esslingen. Die für die Geschichte der Ulmer Juden aufschlussreichsten Quellen dieser Art sind die seit 1387 fortlaufend geführten Bürgerbücher, in die Juden zusammen mit den christlichen Neubürgern eingetragen wurden. Schlecht ist die Überlieferungslage bei den Ulmer Steuerbüchern, die bis auf einige wenige Fragmente und die Bände von 1427, 1499 und 1732/33 komplett verloren sind.2) Als hervorragend dagegen ist die Überlieferungslage bei den seriellen Quellen in Nördlingen einzustufen. Im dortigen Stadtarchiv finden sich Judenbetreffe nicht nur in den Bürger-, Steuer- und Missivbüchern, sondern auch in den seit 1390 überlieferten Pfandbüchern, in denen Geldleihgeschäft detailliert festgehalten wurden.3)

Der Überlieferungslage zu den drei Städten ist gemein, dass Quellen zur Stadtgeschichte – und damit zur Geschichte der jeweiligen Judengemeinden – auf mehrere Archive verstreut lagern. So befindet sich ein Großteil der Quellen zur Geschichte Esslingens und Ulms in den Beständen B 169 (Reichsstadt Esslingen) und B 207 (Reichsstadt Ulm) im Staatsarchiv Ludwigsburg. Grund hierfür ist der Umstand, dass nach der Mediatisierung der beiden ehemaligen Reichsstädte im 19. Jahrhundert zahlreiche Quellen zur Stadtgeschichte an die württembergische Archivverwaltung abgegeben wurden.4) Die meisten Quellen zur Geschichte Nördlingens befinden sich nach wie vor im dortigen Stadtarchiv, doch gibt es auch im Bayerischen Staatsarchiv in Augsburg einen Bestand "Reichsstadt Nördlingen", der mehrere Quellen zur Geschichte der Nördlinger Judengemeinde enthält. Die baden-württembergischen und bayerischen Staatsarchive sind allerdings bei Weitem nicht die einzigen Archive außerhalb der Kommunalarchive, die Quellen zur Geschichte der Esslinger, Nördlinger und Ulmer Juden enthalten. Für die Judengemeinden Ulms und Nördlingens etwa sind das Fürstlich-Oettingen Wallersteinische sowie das Fürstlich-Oettingen Spielbergische Archiv auf der Harburg von hoher Bedeutung. Dies liegt nicht nur an den Geschäftsbeziehungen zwischen Ulmer und Nördlinger Juden und den Grafen von Oettingen, sondern in erster Linie daran, dass die Judensteuern von Ulm und Nördlingen seit 1324 an das Oettinger Grafengeschlecht verpfändet waren.5)

Wie weit verstreut Archivalien zur Geschichte einer reichsstädtischen Judengemeinde lagern können, zeigt insbesondere das Beispiel Ulm6): Zur dortigen Judengemeinde ließen sich in nicht weniger als 20 Archiven und Bibliotheken, die sich überwiegend im süddeutschen Sprachraum befinden, relevante Quellen ausfindig machen. Zu diesen Archiven und Bibliotheken gehören neben den bereits genannten Archiven in Ulm, Ludwigsburg und der Harburg u. a. die Hauptstaatsarchive in München und Stuttgart, die Staatsarchive in Nürnberg, Augsburg, Würzburg und Bamberg, das Hohenlohe-Zentralarchiv in Neuenstein, das Generallandesarchiv in Karlsruhe, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, das Tiroler Landesarchiv in Innsbruck sowie die Stadtarchive von Konstanz, Augsburg, Nördlingen und Ravensburg und die Württembergische Landesbibliothek in Stuttgart. Diese Vielzahl an Orten, an denen sich Quellen zur Geschichte der Ulmer Judengemeinde befinden, geht auf mehrere Ursachen zurück: zum einen – wie bereits dargelegt – auf die herrschaftlichen Veränderungen nach der Mediatisierung, zum anderen aber auch auf den großen Geschäftsradius und die hohe Mobilität der Ulmer Juden. So lagern Quellen zur Geschäftstätigkeit von Ulmer Juden u. a. in den Stadtarchiven von Konstanz und Augsburg sowie den Staatsarchiven in München und Wien, weil Ulmer Juden Kredite an die dortigen Stadträte bzw. an bayerische Adlige sowie die Habsburger vergaben. In anderen Fällen tauschte sich der Magistrat von Ulm mit anderen Stadträten über Juden aus; wieder andere Quellenfunde gehen auf Steuer- oder sonstige Forderungen verschiedener Herrschaftsträger gegenüber den Ulmer Juden zurück. Die Quellenlage zur Geschichte der Ulmer Juden macht also deutlich, dass sich die Quellenrecherche zu einer bedeutenden Judengemeinde weit über den kommunalen Kontext hinaus erstrecken muss, wenn die relevanten Quellen auch nur annähernd vollständig erfasst werden sollen. Dass der überwiegende Teil der Quellen, die in den o. g. Archiven lagern, aus der Zeit nach 1350 stammt, zeigt darüber hinaus die ungleich günstigere Überlieferungslage für die Zeit ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.7) Demzufolge beträgt der Anteil der für die nächsten Förderphasen des Projekts zu bearbeitenden Quellen gerade in Ulm ein Vielfaches der für den ersten Zeitabschnitt eingearbeiteten Dokumente.

Inhaltlich erstreckt sich das Spektrum der Quellen, die für den ersten Untersuchungszeitraum relevant waren, von Angaben zum Judenviertel (z. B. 1333 XII 29 und 1340 V 25: Erwähnung der Esslinger Judengasse), zur Synagoge (1328 II 14: Nennung der dortigen Synagoge) und zum Friedhof (1327 I 13, 1344 XII 8, 1346 II 9: Ausführungen zu den Esslinger Judenfriedhöfen8)) über Verpfändungen der Judensteuern (z. B. Ulm und Nördlingen 1324 XI 10, 1347 XII 16 und 1347 XII 24) bis hin zu "Judenschuldentilgungen" (Esslingen 1311 VIII 27, 1315 X 27, 1315 XI 24, 1315 XI 25 und 1316 I 31). Die letztgenannten Quellenbeispiele, in denen die Könige bzw. Kaiser Heinrich VII. und Ludwig der Bayer den christlichen Bürgern Esslingens ihre Judenschulden erlassen bzw. zumindest Zahlungsaufschübe oder Zinserlasse gewähren, demonstrieren, dass "Judenschuldentilgungen" schon im frühen 14. Jahrhundert – und damit lange vor den beiden großangelegten "Schuldentilgungen" unter König Wenzel in den Jahren 1385 und 1390 – an der Tagesordnung waren und die jüdischen Gläubiger demzufolge schon damals in der Furcht leben mussten, jederzeit ausgeraubt zu werden und ihre ausgegebenen Kapitalien nicht wieder zurückzuerhalten. Die neben diesen Dokumenten aufschlussreichste Quelle im Hinblick auf die Esslinger Juden ist mit Sicherheit die Zunftordnung vom 8. April 1331, da diese die Möglichkeit erwähnt, dass ein Jude in die Zunft der Ledergerber und Pergamenter aufgenommen werden kann. Somit ist diese Ordnung ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass Juden im mittelalterlichen Reich neben der Geldleihe die Ausübung zahlreicher weiterer Gewerbe möglich war. Dasselbe bestätigt das Mandat Ludwigs des Bayern für die Reichsstadt Nördlingen vom 20. Juni 1342, in dem zahlreiche Bestimmungen über die Tätigkeit von jüdischen Fleischern getroffen werden. Für die Stadt im Ries ist darüber hinaus das Gerichtsprivileg desselben Herrschers vom 21. November 1331 hervorzuheben, da dieses zu den wenigen Quellen gehört, in denen einem jüdischen Gericht das Recht zugesprochen wird, Leibesstrafen bis hin zur Hinrichtung zu verhängen. Ein Todesurteil ist jedoch weder vom Nördlinger noch von einem anderen jüdischen Gericht im Mittelalter belegt. Für Ulm dominieren im bearbeiteten Zeitabschnitt die Quellen, die das Stadtrecht betreffen: die Übertragung des Esslinger Rechts an die Stadt Ulm unter Rudolf von Habsburg, dessen Zusammenstellung am 9. August 1296, am 22. August 1299 sowie am 1. Juli 1312 und schließlich der Nachtrag zum Stadtrecht vom 15. Mai 1300, der wie das Stadtrecht selbst eine Passage zu den Juden enthält. Neben diesen Quellen wurden die zahlreichen Übertragungen des Ulmer Rechts an andere Städte (Memmingen, Ravensburg, Meersburg, Saulgau, Langenau, Dinkelsbühl, Biberach und Leipheim) in das Corpus aufgenommen, da die für die Juden getroffenen Bestimmungen neben Ulm zumindest de jure auch in all denjenigen Städten galten, die mit dem Ulmer Recht bewidmet worden waren.

Hebräische Quellen waren für die Zeit zwischen 1273 und 1347 nicht zu bearbeiten. Erst aus dem 15. Jahrhundert sind einige Responsen überliefert, die für die Geschichte der Nördlinger und Ulmer Judengemeinden von Interesse sind. Neben den rabbinischen Rechtsgutachten ist insbesondere im Hinblick auf das Quellencorpus zu Ulm auf hebräische Rückvermerke zu verweisen, die sich auf mehreren zwischen 1353 und 1492 ausgestellten Urkunden befinden und die mitunter wertvolle Informationen liefern, die aus den Urkundentexten alleine nicht hervorgehen.9)

  1. Unter dem Begriff „serielle Quellen“ werden Quellen subsumiert, die fortlaufend geführt wurden und die Serien ausbildeten. Beispiele sind jährlich angelegt Steuer- oder Lagerbücher. Vgl. zu seriellen Quellen in südwestdeutschen Archiven den Sammelband Serielle Quellen (2005). Diese Publikation ist auch online einsehbar [Stand: 21. Juni 2011]. »
  2. Vgl. zur Überlieferungslage der Ulmer Bürger- und Steuerbücher sowie der darin enthaltenen Judenbetreffe Scholl, Geschichte (2011), S. 17 f. »
  3. Vgl. Dohm, Juden (2006), S. 7, zur Überlieferungslage im Nördlinger Stadtarchiv insgesamt ebd., S. 3-8. »
  4. Im Falle Ulms wurden zahlreiche Archivalien zunächst an Bayern abgegeben, da Ulm im Jahr 1802 unter bayerische Herrschaft kam, bevor die Stadt 1810 Teil des Königreichs Württemberg wurde. 1842 fing die bayerische Archivverwaltung an, Archivalien zur Ulmer Stadtgeschichte an Württemberg weiterzugeben; vgl. Scholl, Geschichte (2011), S. 13, mit weiteren Literaturangaben, u. S. 19. »
  5. Vgl. zur Verpfändung der Nördlinger Judensteuer an die Grafen von Oettingen Dohm, Juden (2006), S. 161 und 170-175, und zur Verpfändung der Ulmer Judensteuer Scholl, Geschichte (2011), S. 80 f. und 278-283. »
  6. Vgl. ausführlich bzgl. der Quellenlage zur mittelalterlichen Judengemeinde Ulms ebd., S. 12-25. »
  7. Vgl. zur Ausbreitung des Schrifttums, das sich im nordalpinen Reich nach 1350 geradezu explosionsartig vermehrt hat, Haverkamp, Perspektiven (2004), S. 118-129. »
  8. Bei der Quellenrecherche zum Esslinger Judenfriedhof konnte im Übrigen ein Nachweis für den nach 1350 bislang nicht nachgewiesenen und in GJ 3,2, Art. Eßlingen am Neckar, nicht genannten und daher in Geschichte der Juden (2002) nicht kartierten Judenfriedhof gefunden werden; vgl. UB Esslingen 1, Nr. 1051e, S. 530: Erwähnung eines Gartens, der beim Judenkirchhof gelegen ist (1372 I 14). »
  9. Zu den Erkenntnissen aus den Ulmer Rückvermerken ist eine Publikation des Autors geplant, die zukünftig im Rahmen eines Sammelbandes des Corpusprojekts erscheinen soll. »
Zitierhinweis

Scholl, Christian, Quellen zur Geschichte der Juden in den schwäbischen Reichsstädten Esslingen, Nördlingen und Ulm (1237–1347). Eine Einführung, in: Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg.v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2011,
URL: http://www.medieval-ashkenaz.org/SR01/einleitung.html (Datum des Zugriffs)