Quellen zur Geschichte der Juden in Westfalen (1273–1347). Zur Einführung (von Johannes Deißler)

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Der Untersuchungsraum erfasst das westfälische Kernland, also den Kulturraum zwischen dem Rheinvorland (Münsterland, Mittlere Ruhr, Sauerland) und der Weser. Es schließt im Westen die Grafschaft Bentheim und im Osten die Herrschaft Lippe (mit Detmold) mit ein und entspricht damit den Bistümern Münster (südlicher Teil) und Paderborn sowie Teilen der Diözese Minden und der Erzdiözese Köln (Gebiete südlich der Lippe). Diese Belege wurden überwiegend von Diethard Aschoff besorgt. Das Corpus wurde zusätzlich um die übrigen rechtsrheinischen Gebiete des Erzbistums Köln (mit Belegen für Aspel, Wesel, Duisburg, Siegburg, Blankenberg) und den Rest der Diözese Minden (Hameln, Hannover, Wunstorf) erweitert (bearbeitet von Johannes Deißler). Insofern sind Belege aus dem heutigen Bundesland Nordrhein-Westfalen und angrenzenden Teilen von Niedersachsen vertreten. Ausgeschieden wurden Nachweise aus dem Osnabrücker Land mit der Stadt Osnabrück (und die Osnabrücker Exklave Wiedenbrück), die umfangreichen, in Utrecht verwahrten Urkundenbestände des Konsortiums um den zuletzt in Lochem (Gelderland) wohnhaften Juden Gottschalk von Recklinghausen und – anders als es in der „Westfalia Judaica“ gehandhabt wurde – Juden außerhalb des Untersuchungsraumes, deren Namenzusätze auf Westfalen verweisen. Erstgenannte finden Berücksichtigung im Corpus „Norden des Reiches“, die zweitgenannten Urkunden im Corpus „Niederrhein“, das auch die linksrheinischen Teile der Erzdiözese Köln erfasst, und die Juden mit westfälischen Bezügen findet man in den Corpora, die ihre aktuellen Wohnorte erfassen (etwa „Stadt Köln“).

Das Untersuchungsgebiet gehört – abgesehen von Städten wie Dortmund – zwischen den großen Verkehrswegen in den Norden und damit abseits von ihnen gelegen – wie der königsoffene und -ferne Raum allgemein – zunächst zum peripheren Niederlassungsgebiet der Juden, in das sie erst ab Mitte des 13. Jahrhunderts vordrangen.1) Das dreibändige Kartenwerk zur Geschichte der Juden im Mittelalter zeigt dieses Ausgreifen nach Westfalen deutlich.2) Vor 1300 sind Juden nur in einigen wenigen Städten nachweisbar (Büren, Coesfeld, Dortmund, Duisburg, Essen, Hamm, Iserlohn, Kamen, Minden, Münster, Siegen, Soest, Werden, Wesel und Wunstorf), im halben Jahrhundert danach bis zur Pestkatastrophe steigt die Zahl der Siedlungsorte rasch auf über 35 an, was einer steten und nachhaltigen Aufwärtsbewegung entspricht. Eine einflussreiche Rolle bei Besiedlung und im späteren Kulturkontakt spielt – sieht man von den jüdischen Siedlungen Ostwestfalens ab – die jüdische Gemeinde von Köln, von der auch später immer wieder Impulse nach Westfalen und in den sonst eingeschlossenen Raum ausgehen (wie auch die zahlreichen Belege aus Köln selbst immer wieder westfälische Juden nennen, etwa als Hausbesitzer in Köln). Im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts nahm der Kölner Einfluss auf die jüdischen Niederlassungen Westfalens allmählich ab.3)

Die für den Zeitraum einschlägigen Quellen sind vergleichsweise gut erschlossen. Mit der Zusammenstellung der Urkunden und Regesten im Band 1 der Westfalia Judaica (WJ), der erstmals 1967 in der Bearbeitung von Bernhard Brilling und Helmut Richtering erschien und 1992 eine zweite, für den Berichtszeitraum um mehrere Nummern erweitere Neuauflage erfuhr, liegen die meisten Belege für Westfalen-Lippe geordnet vor (mit 113 Nachweisen mehr als die Hälfte der im Corpus präsentierten Einträge). Grundlegend sind darüber hinaus verschiedene Urkundensammlungen (wie das DUB, Mindener Stadtbuch, Mindener Stadtrecht, UB Essen, UB Geschichte Niederrhein, UB Hameln, WUB) und einzelne Editionen (wie das älteste Bürgerbuch der Stadt Hannover; Dortmunder Statuten). Eine weitere Basis zur Erfassung bietet das seit Herbst 2016 vollständig vorliegende, vierbändige „Historische Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe“, das zwar seinen Schwerpunkt in der Neuzeit hat, aber – in Überblicks- wie Ortsartikeln gleichermaßen – auch die mittelalterlichen Belege erfasst4), ferner die fünfbändige Sammlung „Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen“ von Elfi Pracht-Jörns5) sowie – vor allem auch für die über Westfalen und Lippe hinaus hinzugekommenen Belege – die einschlägigen Ortsartikel der „Germania Judaica 2“. Hinzutreten insbesondere die 2002 erschienene Dissertation von Rosemarie Kosche zur Geschichte der Juden zwischen Rhein und Weser6), die zahlreichen Arbeiten von Diethard Aschoff7) und von Bernhard Brilling8) sowie knappe Überblicksdarstellungen zu Westfalen9) und Niedersachsen10) und vereinzelte Studien regionalen Charakters11).

Die Quellen liegen überwiegend in Editionen vor, die Zahl der Volltexte beschränkt sich auf 9 bzw. 35, wenn man die 26 Belege zum rudimentär editieren Pfandregister des Hannoveraner Rates hinzurechnet. Im Zentrum der Sammlung von insgesamt 202 Quellen stehen die freie Reichsstadt Dortmund (61 Belege), die Bischofssitze Münster (18) und Minden (10), das Stift Essen (10) sowie die Städte Hannover (29) und Hameln (18). Nachrangig vertreten – mit zum Teil wenig Belegen – sind Büren (2), Coesfeld (6), Paderborn (2), Soest (6), Steinfurt (4), Unna (2), und die Stifte Herford (3) und Loccum (3) sowie Duisburg (2), Siegburg (4), Wesel (3) und Wunstorf (2). Fünf Belege verweisen allgemein auf Westfalen, je einer auf die Herrschaft Lippe, das Land Rheine und die Grafschaft Mark. Singuläre Funde sind weiterhin für Aspel, Blankenberg, Bentheim, Bielefeld, Busdorf, Hamm, Vreden (zusammen mit Soest) und Werden zu konstatieren. Beckum und Siegen sind nur indirekt (teils in anderen Corpora) belegbar.12) Größere Siedlungen im Untersuchungsraum ohne jeglichen Nachweis einer jüdischen Bevölkerung bis 1347 sind beispielsweise Arnsberg, Brakel, Detmold13), Düsseldorf, Höxter, Iserlohn, Kamen, Lemgo, Lübbecke und Rinteln. Nachweise für ländliche Siedlungen fehlen weitgehend: Eine Urkunde Erzbischof Walrams von Köln vom 30. August 1339 verweist allgemein auf munitiones, in denen Juden gelebt haben sollen.14) Hier ist wohl mit abnehmender Wahrscheinlichkeit an Brilon, Attendorn, Geseke, Werl, Medebach oder Rüthen zu denken. Eine Urkunde seines Vorgängers Heinrich von Köln lässt im Jahr 1322 Juden im Amt Aspel am unteren Niederrhein vermuten.15)

Zentral sind die 61 Belege zu Dortmund. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass die freie Reichsstadt und die Einkünfte aus den Juden von den Königen respektive Anwärtern mehrfach verpfändet wurden und Stadt und Juden zum Spielball zwischen den rivalisierenden Kräften des Kölner Erzbischofs und der Grafen von der Mark wurden. Darüber hinaus enthalten die Quellen zahlreiche Informationen über die dortige jüdische Gemeinde und ihre Organisation.16) Unter den 18 Belegen für Hameln finden sich zwischen 1322 und 1344 allein zehn Privilegien für jüdische Einwohner der Stadt, eine in der Region nur von Goslar übertroffene Anzahl. Ansonsten – lässt man auch noch Münster und Minden außen vor – dürfen die Judengemeinden im Untersuchungsgebiet als überschaubar gelten. Besondere Vorkommnisse bis zu den Pestpogromen in der Mitte des 14. Jahrhunderts fehlen. Den Judenschutz übernahmen die Bischöfe und die Städte, gelegentlich auch Adelige. Unter den innerjüdischen Quellen sind Grabsteine aus Münster17) sowie wahrscheinlich Minden18), die Nachricht über eine Bücherverbrennung in Soest19) sowie vier Scheidebriefe aus Münster und dem Land Rheine20) und ein anonymes Heiratsformular aus Hamm21) zu nennen. Judeneide stammen aus Dortmund, Soest, Hameln und Wesel.22) Synagogen sind für Münster, Dortmund, Hameln, Wesel und Minden nachgewiesen.23) Jüdische Friedhofe werden lediglich für Münster24) und Dortmund25) erwähnt, ein Minden zugeordneter Grabstein lässt auch dort einen Friedhof vermuten. Jüdische Viertel im engeren Sinne lassen sich in den westfälischen Orten mit Juden nicht finden. Ordnungen für das Schlachten von Vieh sind ausschließlich für Hannover bezeugt.26)

Das Material ist zerstreut, nur selten sind einzelne Juden mehrfach belegt. Zu nennen sind hier etwa Gottschalk in Hannover, der zwischen 1311 und 1321 mit 14 Nennungen (von insgesamt 22 Einträgen mit jüdischer Beteiligung) als Darlehnsgeber im Pfandregister der Stadt Hannover hervorsticht27), Jo(h)el in Dortmund, der als Gläubiger der Stadt und mit Verfügungsgewalt über den Friedhof der Juden ausgestattet erscheint28), und Simon von Herford, der in Finanzgeschäften mit dem Kloster Loccum, dem Damenstift Herford und den Grafen von Ravensberg tätig war29). Mit der Jüdin Rixa30) ist in Dortmund zumindest der Name einer finanzkräftigen Frau greifbar. Mit ihnen sind zugleich die wichtigsten Betätigungsfelder der westfälischen Juden benannt: Geld- und Pfandhandel. Konkurrenz von Lombarden gab es im Untersuchungsgebiet im Übrigen nur in Gebieten am Niederrhein (etwa Wesel).31) Regelungen zum Pfandhandel finden sich in den Dortmunder Statuten32) oder im Hamelner Donat33). Einige Dokumente verweisen auf das gebräuchliche Schadennehmen bei den Juden.34)

Unter den besonders bemerkenswerten Einzelstücken sind ferner hervorzuheben: der Bericht Ludolfs von Sudheim, wonach er bei seiner Pilgerfahrt in den Orient Nachricht über ein aus Westfalen stammendes und in Safed in Galiläa lebendes jüdisches Ehepaar erlangt hat.35) Die Klagerücknahme Bischof Ottos von Paderborn gegen die Edelherrn von Büren und gegen die Stadt Büren wegen der Tötung von Juden verweist für die Zeit vor 1292 auf den einzigen bekannten und ansonsten nicht überlieferten Pogrom in Westfalen vor der Pest Mitte des 14. Jahrhunderts.36) In den Jahren 1314, 1318 und 1340 sind Schutzbriefe der Stadt beziehungsweise des Bischofs für die Juden in Minden37), 1336 für eine jüdische Familie in Unna durch Graf Adolf von der Mark bezeugt38). Mehrfach fordert der Bischof von Münster die Verantwortlichen in Coesfeld zur Aufnahme von Juden auf.39)

Der besondere Informationsgehalt des vorliegenden Teilcorpus liegt zum einen in seinem exemplarischen Charakter für einen Raum mit zunächst verzögertem Einsetzen, dann aber rasantem Ausgreifen der jüdischen Besiedlung und in der vergleichsweise guten Überlieferungslage für die Reichsstadt Dortmund (die Gemeinde selbst wie auch das Wirken der unterschiedlichen politischen Handlungsträger betreffend).

  1. Vgl. Kosche, Netzwerke (2004), S. 185; Dies., Studien (2002), S. 4 f. »
  2. Geschichte der Juden (2002) (hier vor allem die Karten A 2.4 und 2.5). Vgl. auch das Kartenmaterial (Karte 2 und 3) in Kosche, Studien (2002). »
  3. Vgl. Aschoff, Kölner Juden (1981), S. 25–30; Aschoff, Juden in Westfalen (1980), S. 80; Kosche, Studien (2002), S. 26 und 38 f., und immer noch Brilling, Nachweise (1959). »
  4. Historisches Handbuch Westfalen 1–2, 3. »
  5. Pracht-Jörns, Kulturerbe (1997–2005). »
  6. Kosche, Studien (2002). »
  7. Aschoff, Geschichte (2006) sowie zahlreiche regionale Studien (vgl. dazu http://www.medieval-ashkenaz.org/fileadmin/user_upload/Mitarbeiter/Aschoff_Publikationen.pdf). »
  8. Brilling, Dortmund (1958), Ders., Nachweise (1959), Ders., Geschichte Juden Bentheim (1964), Ders., Judenfriedhöfe in Westfalen (1964), Ders., Grabstein (1966). »
  9. Gierse, Juden in Westfalen (1878); vgl. Kosche, Studien (2002), S. 2: „mißlungen“. In diesem Kontext ist ebenfalls auf das auch Westfalen einschließende Kartenwerk Escher/Hirschmann, Urbane Zentren (2005) zu verweisen. »
  10. Asaria, Juden in Niedersachsen (1979), Historisches Handbuch Niedersachsen (2005). »
  11. Etwa Huyskens, Geschichte der Juden in Münster (1899), Koppmann, Dortmund (1867), Krieg, Juden in der Stadt Minden (1937), Magin, Geschichte Juden Hameln (1997), Maser, Dortmund (1911/12), Prieur, Wesel (1988), Rixen, Geschichte (1906), Samuel, Geschichte (1905). »
  12. Beckum: WF01, Nr. 184. Siegen: KS01, Nr. 27»
  13. Unsicherer Beleg: WF01, Nr. 183»
  14. WF01, Nr. 170»
  15. WF01, Nr. 100»
  16. Etwa mit WF01, Nr. 28 oder WF01, Nr. 29»
  17. WF01, Nr. 43, ###CP1-c1-0280###, WF01, Nr. 109, WF01, Nr. 146, WF01, Nr. 163, WF01, Nr. 35, erhalten ist jedoch lediglich ein Originalgrabstein von 1324: WF01, Nr. 109»
  18. WF01, Nr. 191»
  19. WF01, Nr. 55»
  20. WF01, Nr. 21, WF01, Nr. 98, WF01, Nr. 184, WF01, Nr. 186»
  21. WF01, Nr. 23»
  22. WF01, Nr. 5, WF01, Nr. 36, WF01, Nr. 58, WF01, Nr. 97»
  23. WF01, Nr. 4, WF01, Nr. 58, WF01, Nr. 97, WF01, Nr. 151, WF01, Nr. 189, WF01, Nr. 195, WF01, Nr. 196»
  24. Zum Jahr 1301, WF01, Nr. 40; vgl. die Grabsteine. »
  25. Zum Jahr 1336, WF01, Nr. 152 und WF01, Nr. 153; vgl. WF01, Nr. 195»
  26. WF01, Nr. 172»
  27. WF01, Nr. 59 mit den weiteren Nachweisen. »
  28. WF01, Nr. 8, WF01, Nr. 80, WF01, Nr. 118, WF01, Nr. 138, WF01, Nr. 153, WF01, Nr. 164, WF01, Nr. 166, WF01, Nr. 168, WF01, Nr. 169, WF01, Nr. 188»
  29. WF01, Nr. 50, WF01, Nr. 51, WF01, Nr. 52, WF01, Nr. 88, WF01, Nr. 93, WF01, Nr. 145»
  30. WF01, Nr. 80, WF01, Nr. 81, WF01, Nr. 94»
  31. WF01, Nr. 91; vgl. zu der Thematik auch Reichert, Lombarden (2003). »
  32. WF01, Nr. 6 und WF01, Nr. 171»
  33. WF01, Nr. 38 und WF01, Nr. 187»
  34. Beispielsweise WF01, Nr. 42 oder WF01, Nr. 72»
  35. WF01, Nr. 150»
  36. WF01, Nr. 13»
  37. WF01, Nr. 70, WF01, Nr. 87, WF01, Nr. 174. Mit einem offenbar nicht ganz spannungsfreien Zusammenwirken von Stadt und Bischof: WF01, Nr. 108 und WF01, Nr. 124»
  38. WF01, Nr. 154»
  39. WF01, Nr. 106, WF01, Nr. 159, WF01, Nr. 161, WF01, Nr. 162, WF01, Nr. 185»
Zitierhinweis

Zitierhinweis: Deissler, Johannes, Quellen zur Geschichte der Juden in Westfalen. Zur Einführung, in: Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2017, URL: http://www.medieval-ashkenaz.org/WF01/einleitung.html (Datum des Zugriffs)