Quellen zur Geschichte der Juden im Elsass (1273-1347)

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Elsass 1, Nr. 63

1303

Der Autor teilt mit, dass Bruder Konrad von Rheinheim (de Rinhaim) vom Dominikanerorden die folgende Geschichte überliefert hat: Im Jahre 1303 lebte in Thierheim (in villa Tierhaim) (1) eine Frau, die einen siebenjährigen epileptischen Sohn (passio epileptica) hatte. Damit der Junge geheilt würde, unternahm die Mutter eine Wallfahrt ad sanctos (2) und kehrte auf dem Rückweg bei ihrer im Kindbett liegenden Schwester in Sulz ein. Als sie ans Haus der Schwester gelangt waren, erbot sich der Knecht, der die beiden offenbar auf seinem Karren mitgenommen hatte, auf den auf dem Karren liegenden Jungen aufzupassen. Dem Knecht gelang es, den weinenden Jungen abzulenken, so dass seine Mutter gehen konnte. Als ein Vorbeiziehender dem Knecht Fragen stellte, achtete er nicht auf den Jungen, der durch das Stadttor (porta municionis seu civitatis) hinauslief und sich an einer schönen Stelle am Wegesrand niederließ. Zwei vorbeikommende Juden erblickten den einsamen und schutzlosen Knaben, ergriffen ihn und warfen ihn in einen Sumpf oder Graben und wälzten den kleinen Körper an den Grund, dass weder der Körper noch Kleider noch sonst eine Spur zu finden war. Hätte der Junge sich selbst versenkt, so hätte er kaum die Hälfte seines Körpers verstecken können. Auf diese Weise ist die Täterschaft der Juden beweisbar. Die Mutter beeilte sich, um wieder zu dem Jungen zurückzukehren, und ging, als sie ihn nicht finden konnte, zum Stadttor hinaus. Dort traf sie auf die beiden fröhlich gestimmten Juden, die behaupteten, den Knaben nicht gesehen zu haben. Daraufhin suchte die Frau die gesamte Stadt erfolglos ab und sagte dann, dass ohne Zweifel die beiden Juden, die sie vor der Stadt getroffen hatte, ihren Sohn umgebracht hätten. Dann kehrte die verwirrte Frau voller Schmerz nach Hause zurück. Nach fünfzehn Tagen kamen zwei junge Frauen zu der Stelle, wo der Knabe lag, um Futter für die Schafe zu sammeln. Da sah eine von ihnen die Spitze eines Kleidungsstücks im Sumpf schwimmen. Als sie es mit der Sichel heranzogen, kam zuerst ein Kleidungsstück und schließlich der Knabe zum Vorschein. Sie verständigten Leute, die den Knaben in die Kirche trugen und behaupteten, er sei ein heiliger Knabe und Märtyrer, weil Gott wegen ihm Wunder wirke. Daher kamen viele Leidende zu ihm, die nach Berührung mit dem Leichnam Genesung erfuhren. Nach der Bestattung des Knaben erfolgte häufig Heilung durch das Auftragen der Erde vom Grab auf die schmerzenden Stellen. Angesichts des großen Menschenauflaufs gingen die beunruhigten Juden Landrichter (judices terre) um ihre Entlastung an, was ihnen auch glückte. Seit dieser Zeit hörten auch die Wunder auf.

(1) Thierhaim ist nach Mentgen, Studien (1995), S. 427, höchstwahrscheinlich mit dem wüst gefallenen Ort Thierheim identisch; Kleinschmidt deutet ihn in seiner Edition der Historiae memorabiles als Türkheim. Zu Tiernheim/Thierhurst vgl. Clementz, Nahwallfahrten (2012), S. 126.

(2) Grabmayer, Rudolf (1994), S. 309, vermutet, dass es sich um eine Wallfahrt nach Thann gehandelt haben könnte, wo zu dieser Zeit eine Wallfahrtsstätte für Epileptiker bestanden haben soll. Zwar suchten auch 'Tobsüchtige' den hl. Theobald in Thann auf, doch handelte es sich keinesfalls um eine spezielle Wallfahrtsstätte für Epilektiker; vgl. Röpcke, St. Theobald (2012). Letztere pilgerten vornehmlich zum Priorat Saint-Valentin nach Rufach auf; vgl. Clementz, Nahwallfahrt, S. 111 und 114.

Überlieferung:

Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek, Ms. 704, fol. 209r/v, Abschr. (Mitte 16. Jh.), lat., Papier; Sigmaringen, Fürstlich Hohenzollernsche Hofbibliothek, Cod. 64, fol. 63r-64r (Abschr. Mitte 16. Jh.).

  • Rudolf von Schlettstadt, Historiae memorabiles, Nr. 17, S. 66-68.
  • Grabmayer, Diesseits (1999), S. 253;
  • Mentgen, Studien (1995), S. 427 f.;
  • Grabmayer, Rudolf (1994), S. 309-311;
  • Lotter, Judenbild (1993), S. 434.

Kommentar:

Zu den fälschlich Rudolf von Schlettstadt zugeschriebenen Historiae memorabiles aus dem Umfeld der Colmarer Dominikaner vgl. EL01, Nr. 31.

(jmü.) / Letzte Bearbeitung: 06.01.2017

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2014, EL01, Nr. 63, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/EL01/CP1-c1-00ry.html (Datum des Zugriffs)

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