Quellen zur Geschichte der Juden im Elsass (1273-1347)

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Elsass 1, Nr. 31

1298

Der Autor der Historiae memorabiles schreibt: In der Stadt Basel (in civitate Basiliensi) lebte einst ein armer Kürschner oder Gerber (pellifex vel pelliparius), der sich durch Gelegenheitsarbeiten verdingte, wobei er auch für Juden arbeitete. Im Jahre 1298 schickten ihn Juden als Knecht mit einem Brief nach Bergheim, das zur Herrschaft Rappoltstein gehörte. Dort angekommen, übergab er einem in Bergheim ansässigen Juden den Brief und zog sich dann zum Ausruhen in das Haus eines Bäckers oder Müllers (pistor) zurück. Schon nach kurzer Zeit riefen die Juden den Knecht wegen einiger zu klärender Fragen zu sich. Auf Anraten seiner Gastfamilie teilte er dem Boten mit, dass er erst am nächsten Tag komme. Daraufhin ließ der Jude, dem er den Brief überbracht hatte, ihn erneut rufen, weil er angeblich beschädigte Tierhäute dringend reparieren solle. Der arme Kürschner begab sich sogleich zu dem Juden und begann in dessen Stube (stuba) mit der Ausbesserung der Häute. Als er so bis in die Nacht hinein arbeitete, betraten plötzlich mehrere Juden den Raum, von denen einer ihm mit einem Gegenstand einen tödlichen Schlag auf den Hinterkopf versetzte. Daraufhin zogen die Juden dem Toten das Blut aus dem Körper und warfen den Leichnam in den Rhein (in alveum Reni). (1) Zu dieser Zeit gab es in Rappoltsweiler (Rapersweyr) eine von Dämonen besessene Frau mit hellseherischen Fähigkeiten. Diese lief durch Rappoltsweiler und forderte die Leute auf, das von den ungläubigen Juden (perfidi Judei) vergossene Blut Christi zu rächen. Auch werde Christus von diesen häufig in Gestalt des Brotes verwundet. Rächen sollten sie auch das Blut des Kürschners, den die Juden neulich in Bergheim umgebracht hatten, den sie hatten ausbluten lassen und dessen Körper sie in den Rhein geworfen hatten. Schließlich gelangte die Frau zu den Herren von Rappoltstein und beschuldigte diese, von den Juden viel Silber erhalten zu haben, um sie zu schützen, wofür Gott sie schwer strafen werde. Auf die Frage, wie sie denn mit den Juden verfahren würde, antwortete die von Dämonen Geplagte, dass die unreinen und stinkenden Juden (inmundi ac fetidi Judei), die noch verächtlicher als Hunde seien, lange im Kerker bestraft werden sollten, ehe sie mit den Füßen an die Schweife von Pferden gebunden durch Dornen, Gestrüpp und Wurzeln zum Galgen geschleift und kopfüber aufgehangen verbrannt werden sollten.

(1) Bergheim liegt etwa 20 km vom Rhein entfernt.

Überlieferung:

Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Hofbibliothek, Ms. 704, fol. 218v-219r, Abschr. (Mitte 16. Jh.), lat., Papier; Sigmaringen, Fürstlich Hohenzollernsche Hofbibliothek, Cod. 64, fol. 68v-70r (Mitte 16. Jh.).

  • Rudolf von Schlettstadt, Historiae memorabiles, Nr. 39, S. 99-101.
  • Grabmayer, Diesseits (1999), S. 266;
  • Mentgen, Studien (1995), S. 428;
  • Grabmayer, Rudolf (1994), S. 304;
  • Lotter, Judenbild (1993);
  • Schwein, Juifs (1976/77), S. 27.

Kommentar:

Eine Historiae memorabiles genannte Sammlung von 56 Wundergeschichten, von denen 19 datiert sind und den Zeitraum von 1284 bis 1303 abdecken, hat Kleinschmidt auf Basis einer um 1550 angefertigten Abschrift des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern ediert. Die dem Dominikanerprior Rudolf von Schlettstadt zugewiesene Autorschaft der Sammlung konnte jüngst von Georges, Graf (1999), aufgrund des Fundes einer zweiten, kurz nach der oben erwähnten Kompilation ebenfalls von Graf Wilhelm Werner angefertigten Abschrift mit insgesamt 221 Wundergeschichten (zwischen 1562 und 1575) weitgehend entkräftet werden: Rudolf von Schlettstadt fungierte lediglich als Zeuge für einen zusammenhängenden Komplex von 16, ausnahmslos angebliche jüdische Ritualmord- und Hostienfrevel betreffenden Geschichten (Nr. 1-16 der Edition). Fälschlicherweise wurde dies in der älteren Forschung als Urheberschaft des Werks interpretiert. Hinzu kommen noch vier weitere Geschichten mit folgenden jüdischen Betreffen: eine weitere Hostienschändung (Nr. 25), ein Mord an einem Christenknaben [ohne rituellen Hintergrund] (Nr. 17), ein Mord an einem christlichen Kürschner (Nr. 39) und der Tod eines gotteslästerlichen Juden durch Blitzschlag (Nr. 56). Aufgrund der Tatsache, dass sich sowohl der Editor als auch die Sekundärliteratur auf Rudolf von Schlettstadt als Autor der Kompilation beziehen, werden die aus dem Werk exzerpierten Regesten zur leichteren Auffindbarkeit Rudolf zugeordnet. Die zweite Abschrift der Wundergeschichtensammlung entstammt, wie Textdifferenzen erkennen lassen, nicht derselben Vorlage wie die erste. Beide gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Geschichtsschreibung im Umfeld des Colmarer Dominikanerkonvents zurück. Der neue Textfund enthält neben den 58 Texten der ersten Handschrift (zwei davon sind bislang unediert) weitere 54 Geschichten, die auf die oben genannte Dominikanerchronistik zurückzuführen sind, wovon zwei Juden betreffen. Zeitlich dürften auch die meisten nicht datierten Texte dem engeren Berichtszeitraum des Kompilators zwischen 1284 und 1303 angehören. Von den wenigen eindeutig einer früheren Überlieferungsstufe zugehörigen Texten stammt der älteste aus den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts. Auf Basis des neuen Handschriftenfundes bereitet Stefan Georges zurzeit eine neue Gesamtedition vor; vgl. demnächst Georges, Wundergeschichtensammlung, einstweilen noch Ders., Graf.

Zwar steht die Sammlung formal in der Tradition der Exempla-Literatur, doch liefert sie zahlreiche Details zu Personen und Verfolgungsorten, so dass für den oberrheinischen Autor wohl die Darstellung der - zumeist in Franken spielenden Ereignisse - im Vordergrund gestanden haben dürfte. Dass der Autor überwiegend von Juden angeblich verübte Ritualmorde und Hostienschändungen als Begründung für die Verfolgungen anführte, liegt daran, dass er ebenso wie die meisten seiner Zeitgenossen derartige, den Juden böswillig unterstellte Vergehen glaubte und sich nur allzu gern auf die dahingehenden Aussagen seiner überwiegend dem Dominikanerorden und dem Niederadel zuzurechnenden Gewährsmänner verließ.

Insgesamt entbehren die gegenüber den Juden erhobenen Vorwürfe des Ritualmords und der eng damit zusammenhängenden Hostienschändung jeglicher Grundlage; vgl. Lotter, Aufkommen (1995) (mit weiterer Literatur).

(jmü.) / Letzte Bearbeitung: 20.05.2019

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2014, EL01, Nr. 31, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/EL01/EL-c1-0001.html (Datum des Zugriffs)

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