Quellen zur Geschichte der Juden im Erzbistum Mainz (1273-1347)

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Ebm. Mainz 1, Nr. 42

1292 Juli 24, Mainz

Grabstein der zu Mainz bestatteten Jüdin Hanna, Tochter Juda Aris:

האבן] [הז]את מראש[ו]ת מרת חנה המאירה]
בשנים י'ט' ובחכ]מה בזיקנה נעטרה]
ב]ת רבינו ר' יהודה ארי שבחבורה]
ובשנים מועטות כבכל מאושרה
והפיקה לרעה נפשה ולחמה פצרה
וזוודין זווודה לאורחא רחיקא לסוברה
ביום חורבן דביר בנ'ב' לפרט נפטרה
ובמנוחת אסיפתה עלינו להתכפרה
עים נשים באוהל תהא מדורה

Übersetzung:

Dieser Stein (1) ist die Kopfstütze (2) der Frau Hanna der Erleuchteten.
Mit 19 Jahren (3), jedoch mit Weisheit hohen Alters (4) war sie gekrönt, (5)
die Tochter (6) unseres Rabbiners Herrn Juda Ari, der in der Gesellschaft (7) ist,
und in wenigen Jahren fast mit allem war sie beglückt (8).
Und sie ließ ausgehen (9) für ihren Nächsten ihr Leben und ihr Brot verteilte sie (10)
und Reisekost (11) bereitete sie für den weiten Weg (12) zur Hoffnung (13).
Am Tage der Zerstörung des Allerheiligsten (14) im [Jahre] 52 nach der Zählung verstarb sie
und mit der Ruhe ihres Todes (15) ist sie über uns zur Sühnung (16).
Mit (17) den Frauen (18) im Zelte sei ihre Wohnung (19). (20)

(1) Nach der Autopsie am Original und nach einer vor wenigen Jahren aufgenommenen Fotografie ist ein Teil der für dieses jüdische Epitaph geschaffenen Schreibfläche (s. u. im Kommentar) heute nicht mehr erhalten. Ob Rapp in den 1950er Jahren bei seiner Transkription von einem umfangreicheren (und besseren) Erhaltungszustand ausgehen konnte oder ob er den Text nach seinem Verständnis ergänzte bzw. 'verbesserte', ist unbekannt. Der Anfang der ersten Schriftzeile fehlt heute. Rapp transkribierte ihn in einer Weise, dass man vermuten kann, dass er ציון אחת las oder konjizierte, und übersetzte seine Version mit 'Ein Grabmal'. Nach der Standard-Klassifizierung des Hebräischen ist ציון ('Steinmal') ein Maskulinum, אחת dagegen die feminine Form des Zahlworts (Gesenius, Handwörterbuch [1962], S. 22 und 682; Alcalay, Dictionary [1965], Sp. 64 und 2171). Wäre eine solche Inkongruenz bei mittelalterlichem Hebräisch auch wohl nicht singulär, so spricht doch der paläographische Befund gegen Rapps Ansatz: Das erste heute noch erhaltene Wortbruchstück ist nämlich את, so dass אחת als Lesung entfällt und ה)זאת‏)‎ ('diese'; Fem. Sing.) an der in Frage stehenden Stelle des Textes plausibel erscheint. Vor ה)זאת‏)‎ war in der ursprünglichen Schriftzeile nicht sehr viel Platz für ein kongruentes Nomen (ggf. mit vorgefügtem ה). Deswegen ist dort wohl nicht ה)מצבה‎)‎ ('Grabstele') zu vermuten, sondern die grafisch 'kompaktere' Bezeichnung ה)אבן‏)‎ ('Stein'). Der letztgenannte Terminus trifft zudem genau den Gegenstand: Es handelt sich um einen römischen 'Stein', der im Mittelalter zu einem jüdischen Grab-Stein umgestaltet wurde (s. u. im Kommentar).

(2) Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 1490, gibt als Bedeutung von מראשות 'head-rest' an, was man mit 'Kopfpolster, -lehne, -stütze' übersetzen kann. Rapp (Mainzer hebräische Grabsteine, Nr. 5, S. 44) veröffentlichte 'zu Häupten', eine Formulierung, mit der man gewöhnlich לראש wiedergibt. Die Schreibung מראשות der vorliegenden Edition orientiert sich an Rapps Transkription; jedoch wurde das ו in eckige Klammern gesetzt, weil der Graveur nach Autopsie und Fotografie (s. o.) möglicherweise מראשית verzeichnet hat. Da ראשית 'Anfang' bedeutet, könnte man מראשית mit 'von Anfang an' übersetzen. Vielleicht handelt es sich (auch) um eine Anspielung auf den Bibeltext: בראשית ('am Anfang'), was zu der in der Grabinschrift gerühmten Weisheit usw. der Verstorbenen passen würde.

(3) Ergänzung der heute nicht mehr erhaltenen Buchstaben in Orientierung an Rapps Transkription (Mainzer hebräische Grabsteine, Nr. 5, S. 44).

(4) Vgl. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 687: זקנה. Ob auch Rapp den paläografischen Befund als Plene-Schreibung gedeutet hat, lässt sich nicht sagen, da man im vorliegenden Fall (wie an anderen Stellen) aus Rapps Transkription (Mainzer hebräische Grabsteine, Nr. 5, S. 44) nicht mit Sicherheit auf den von diesem angenommenen hebräischen Buchstabenbestand schließen kann. Eindeutig ist jedoch, dass Rapp statt der Präposition ב‎ ('‏in, mit'), die nach Autopsie und Fotografie (s. o.) unbestreitbar verzeichnet wurde, die Präposition כ ('wie') meinte identifiziert zu haben, was auch in seiner Übersetzung 'wie der des Greisenalters' zum Ausdruck kommt.

(5) In der Vorlage mit dilatiertem ר und dilatiertem ה.

(6) Ergänzung des heute nicht mehr erhaltenen Buchstabens in Orientierung an Rapps Transkription (Mainzer hebräische Grabsteine, Nr. 5, S. 44).

(7) Vgl. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 699 f.; Jastrow, Dictionary (1903), S. 416.

(8) Vgl. Gesenius, Handwörterbuch (1962), S. 73, II: אשר, Pu. pt.

(9) Vgl. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 1667: נפק.

(10) In der Vorlage mit dilatiertem ר und dilatiertem ה.

(11) Vgl. Jastrow, Dictionary (1903), S. 384: זוודא.

(12) Vgl. ebda., S. 33.

(13) Vgl. ebda., S. 952: סוברא. Rapp erläuterte nicht, warum er den Transkriptionsbuchstaben für ר in runde Klammern setzten ließ.

(14) Vgl. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 398. Bei dem erwähnten Tag handelt es sich kalendarisch um den 9. Av.

(15) Vgl. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 130.

(16) Vgl. ebda., Sp. 615: התכפרות; Gesenius, Handwörterbuch (1962), S. 360, I: כפר, Hithpa., כפרים.

(17) Mit Plene-Schreibung, worauf Rapp besonders aufmerksam machte.

(18) Rapp fügte in der Übersetzung kommentierend 'der Erzväter' in runden Klammern bei.

(19) Vgl. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 1201.

(20) Zweigähnliches Zeichen (Lulav?).

Überlieferung:

Mainz, Landesmuseum, Inv.-Nr. S 1111, hebr.

  • Rapp, Chronik (1977), Nr. 84 , S. 54 f.;
  • Mainzer hebräische Epitaphien, Nr. M 81, S. 85.

Kommentar:

Die Schreibfläche für diese Grabinschrift wurde an einer Stelle geschaffen, die im Zusammenhang der in Frage stehenden mittelalterlichen Epoche und im Blick auf die anderen bekannten zeitgenössischen jüdischen Epitaphe in Mainz als ungewöhnlich zu bezeichnen ist, nämlich auf einem römischen Steinblock, der zudem auf der benutzten Seite lateinische Schriftzeilen aufwies. Letztgenannte, von denen jeweils mehrere Anfangsbuchstaben noch heute erhalten sind, verlaufen in etwa rechtem Winkel zu den hebräischen Schriftzeilen des jüdischen Epitaphs. Nach Rapp (Mainzer hebräische Grabsteine, S. 42) handelt 'es sich um einen römischen Grabstein […], der in Zweitverwendung nach Abschleifen eines Teiles der lateinischen Inschrift hebräisch beschriftet worden' ist. Jedoch nicht nur der Ort, den man für die Verzeichnung des jüdischen Textes wählte, ist bemerkenswert. Vielmehr weist diese Grabinschrift selbst eine außergewöhnliche Struktur und sonstige erörterungswürdige Aspekte auf. Der Text wurde als ein Gedicht mit identischem Endreim gestaltet, denn jede der gebundenen Zeilen des Epitaphs endet mit der betonten Silbe '-ra' (-רה). Außerdem berücksichtigte man bei der Komposition dieser Grabinschrift rhetorische Mittel wie Antithese, Parallelismus usw. Einzelne der verwendeten Begriffe sind mit beachtenswerten Konnotationen verbunden; so bedeutet z. B. זוודא nach Jastrow, Dictionary (1903), S. 384, nicht nur 'outfit for travelling, provision', sondern auch 'dying outfit, shroud' und im übertragenen Sinn 'good deeds'. In welchem Sinn חבורה ('Gesellschaft, Verein') zu verstehen ist, ist Rapp (Mainzer hebräische Grabsteine, S. 45) 'nicht ganz deutlich geworden'. Er zog als mögliche Bedeutung 'Gemeinde' in Betracht. Damit könnte jedoch nicht diejenige in der Stadt Mainz selbst gemeint sein, da diese große Gemeinde den jüdischen Rechtsstatus einer Kehilla besaß; vgl. Geschichte der Juden 3 (2002), S. 215; GJ 3, 3, S. 2090. Vielmehr wäre an eine Gemeinde im Umland von Mainz zu denken: 'Kleinere Gemeinschaften nannte man Chawura [חבורה]; sie waren für einige Dienstleistungen auf nächstliegende größere Gemeinden angewiesen' (GJ 3, 3, S. 2090). Rapps weitere Erwägung (a. a. O.), dass es sich auch um die 'Beerdigungsbruderschaft' handeln könne, ist nicht nur wegen der für diese üblichen sprachlichen Variante חברה (vgl. Alcalay, Dictionary [1965], Sp. 707), sondern vor allem deswegen nicht plausibel, weil 'die Organisation der 'Heiligen Bruderschaft' (Chewra Kaddischa [חברה קדישא]) […] im aschkenasischen Bereich erst in der frühen Neuzeit nachzuweisen ist'; GJ 3, 3, S. 2089 mit Anm. 65. Alcalay, Dictionary (1965), Sp. 699 f., beschreibt das Bedeutungsfeld von חבורה mit 'company, society […] group (especially eating the paschal lamb together)' und führt in diesem Zusammenhang ארי שבחבורה 'the leader of the company (group), big boss, the chief' an. Vielleicht wollte man in der Grabinschrift auch auf die letztgenannte appellativische Wendung anspielen; die zumindest vorrangige Funktion von ארי in diesem Epitaph wird jedoch sein, dass es sich dabei um den Namen Ari des Vaters der Verstorbenen handelt. Denn Löw bzw. hebr. Ari war ein gängiger Begleitname eines Juda; vgl. Beider, Dictionary (2001), Art. Arye, S. 277; Art. Leyb, S. 358 f.; Art. Yude, S. 458. Das Epitheton המאירה haMeira ('die Erleuchtete') wählte man bei Hanna möglicherweise in Erinnerung an den Beinamen Meir, unter dem ein berühmter Schüler des R. Akiba bekannt ist; vgl. Beider, Dictionary (2001), Art. Meyer, S. 377; Jastrow, Dictionary (1903), S. 722. Im Unterschied zu den anderen bekannten zeitgenössischen jüdischen Epitaphen in Mainz wird in der Grabinschrift das Alter der Verstorbenen erwähnt. Dass Hanna gerade am Tage der Zerstörung des Allerheiligsten starb, mag für die Hinterbliebenen von besonderer Bedeutung gewesen sein. Die nicht immer angeführte Wendung לפרט ('nach der Zählung') wurde bei diesem Epitaph aufgenommen, jedoch im Unterschied zu den meisten anderen Grabinschriften dieser Epoche nicht das zeitgenössische (6.) Jahrtausend verzeichnet. Das dem Text nachgefügte zweigähnliche Zeichen findet sich gelegentlich auch auf Mainzer jüdischen Grabsteinen des 11. Jahrhunderts; vgl. Cuno, Grabsteine (2012), S. 507, Nr. A.5.06.

(kcu.) / Letzte Bearbeitung: 22.03.2017

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2015, MZ01, Nr. 42, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/MZ01/CP1-c1-02r2.html (Datum des Zugriffs)

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