Quellen zur Geschichte der Juden in den norddeutschen Bistümern (1273-1347)

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Norddeutschland 1, Nr. 74

1312 Dezember 31, Goslar

Der Rat der Stadt Goslar bekundet eine Vereinbarung mit den Juden Samson, dessen Sohn Mose, deren Ehefrauen und alle ihre unverheirateten Kinder (Sampsonem et Moysen filium ipsius iudeos, uxores et omnes pueros ipsorum non coniugatos), wonach diese in seinen besonderen Schutz und zum Verbleib in Goslar aufgenommen werden, wie es bei diesen üblich ist (in nostram specialem protectionem ad manendum in nostra civitate, prout solitum est eis). (1) Sie werden aus der Gemeinschaft der übrigen Juden in Goslar dadurch eximiert, dass sie nicht an der gewöhnlichen Schoßabgabe mitwirken, sondern dem Rat alljährlich zum Fest Johannes des Täufers (2) und zum Weihnachtsfest (3) jeweils 1 1/2 Mark geben (Eximentes ipsos a consortio pariter et a communitate aliorum nostrorum iudeorum sub hac forma, videlicet quod ipsis non cooperabuntur ad contributionem, que schot in vulgo vocatur, sed nobis dabunt marcam et dimidiam puri argenti singulis annis ad diem beati Johannis baptiste (2) necnon marcam cum dimidia argenti similis ad Nativitatem domini nostri (3) deinde subsequentem). (4) Wenn Sie aber mit ihrem Geld irgendein Haus oder Eigentum erwerben, können sie solches mit Recht weiterveräußern, sofern die Rechte der Stadt Goslar davon unberührt bleiben (Verum si aliquam domum aut hereditatem suis denariis comparaverint (5), hanc licite revendere poterunt, quandocumque decreverint, civitatis tamen nostre in omnibus iure salvo (6)). Der Rat gesteht allen Mitgliedern der Familie eine uneingeschränkte Rechtsstellung zu, wenn sie aber ihre Söhne und Töchter verheiraten, müssen diese nach der Eheschließung für ihren Verbleib gesondert mit dem Rat verhandeln (Concedimus etiam ipsis, ut plena iustitia gaudeant in omnibus; sed si pueros suos masculos vel feminas ad copulam conjugalem tradiderint, post copulam hii pro sua mansione specialiter nobiscum placitabunt). (7)

Datum anno domini MᵒCCCᵒXIIᵒ, in die Silvestri pape. (8)

(1) Die Form ad manendum in nostra civitate belegt den Zuzug nach Goslar.

(2) Juni 24.

(3) Dezember 25.

(4) Im Unterschied Gegensatz zu dem Gros der folgenden Judenbriefe gilt diese Vereinbarung unbefristet; vgl. GJ 2, 1, S. 285.

(5) Dass Samson und sein Sohn domus beziehungsweise hereditates erwerben können, wird als normal vorausgesetzt. Da diese Bestimmung aber in keiner der späteren Judenbriefe auftaucht, war sie entweder so selbstverständlich, dass sie nicht gesondert erwähnt werden musste oder sie ist als ein spezielles Vorrecht Samsons und seines Sohnes zu betrachten. Dann hätten die Goslarer Juden nicht allgemein das Recht zum Erwerb von Grundbesitz gehabt. Das geht einher mit dem Umstand, dass man in dieser Zeit kein Goslarer Grundstück kennt, das Eigentum eines Juden war. Die jüdischen Grundstücke im Gosewinkel und die Synagogen gehörten dem Rat (NO01, Nr. 272, NO01, Nr. 187, ###NO-c1-0035### und ###NO-c1-0038###), die übrigen von Juden bewohnten Häuser waren Eigentum christlicher Bürger (NO01, Nr. 138 und NO01, Nr. 173). Auch den 1358 erworbenen Friedhof besaß die Gemeinde nur pachtweise (###NO-c1-0037###); vgl. dazu GJ 2, 1, S. 288 und 295, Anm. 71, sowie GJ 3, 1, S. 451.

(6) Da Samson und sein Sohn vom allgemeinen Schoß befreit waren und anstelle der direkten Vermögenssteuer eine Kopfsteuer entrichteten, konnte dem Rat aus ihrem künftigen Verkauf von Grundvermögen an eine schoßpflichtige Person Schaden erwachsen. Daher wird festgesetzt, dass bei einem Verkauf des bisher schoßfreien Grundvermögens das 'Recht der Stadt' auf die Steuer von dem Grundstück gewahrt werden muss, indem das Grundstück mit dem Übergang in schoßpflichtige Hände ebenfalls zur Berechnung des Schoßes herangezogen wird; vgl. dazu GJ 2, 1, S. 288.

(7) Insofern galt die Höhe der Kopfsteuer nur für zwei konkrete jüdische Familien, jede aus ihr heraus durch Verheiratung eines Mitgliedes neu begründete Familie musste ihre Kopfsteuer aufs Neue verhandeln.

(8) Die erste Zeile des Eintrages auf Rasur oder durch andere äußere Einflüsse abgeblasst.

Überlieferung:

Goslar, StadtA, B 825, fol. 34r, [Nr. 82], Abschr. (1. Hälfte 14. Jh.), lat., Perg.

Kommentar:

Das Privileg an den Juden Samson und seinen Sohn vom 31. Dezember 1312 ist das erste in einer Reihe von 27 lateinischsprachigen Dokumenten, die als Judenprivilegien des Goslarer Rates oder als 'Judenbriefe' der Stadt Goslar bezeichnet werden. In der Regel enthalten diese - zumeist befristete - Privilegien für einzelne jüdische Bewohner Goslars: 1. Bestimmungen zum Schutz des Urkundenempfängers und seiner Familie durch den Rat der Stadt Goslar (bei Neuankömmlingen ergänzt mit einer Erlaubnis zum Verbleib in Goslar). 2. Eine Erklärung zur Befreiung bzw. Exemtion vom üblichen Judenschoß der Gemeinde und zur Leistung einer pauschalen Sondersteuer, die sich zwar an der Finanzkraft des betreffenden Juden orientiert, aber von Vermögensänderungen nicht berührt wird und die Fischer, Judenprivilegien (1936), S. 110 als 'Kopfsteuer' bezeichnet hat. Diese Steuer war zu festen Zahlungsterminen direkt an den Rat zu zahlen, und zwar in der Form der marca puri argenti oder pura marca, also der reinen, feinen oder volllötigen Silbermark, die einen höheren Wert als die marca argenti Goslariense besaß; vgl. Buck/Büttner/Kluge, Münzen der Reichsstadt Goslar (1995), S. 23 f. 3. Die Gewähr einer in allen Belangen uneingeschränkten Rechtsstellung (plena justitia in omnibus). 4. Die Verpflichtung des Urkundenempfängers zur Zahlung von eventuell eingeforderten Reichssteuern, wobei unabhängig von aktuellen Verhältnissen, also formelhaft, König ([serenissimus dominus noster] rex; regalis maiestas) und Kaiser ([dominus] imperator) beziehungsweise ein kaiserliches Mandat (mandatum imperiale) oder das Reich (imperium) als Anspruchsteller benannt werden. Verwendete Titulierung und gegebenenfalls ausbleibende Referenz enthalten demnach keine politische Aussage. Die Abgaben werden zumeist als collecta und subsidium, exactio oder contributio bezeichnet, die Fischer, Judenprivilegien (1936), S. 97 f. ausschließlich als außerordentliche Reichssteuern gedeutet hat. 5. Das Verbot, durch versteckten Geldtransfer beziehungsweise die Annahme von Geld zum eigenen Gebrauch (ad usus suos) dem Rat Steuereinnahmen vorzuenthalten (beispielsweise durch Übernahme von ursprünglich schoßpflichtigem Vermögen) und schließlich 6. die Anordnung, dass unverheiratete Kinder und andere Familienmitglieder bei Änderungen ihres Familienstandes mit dem Rat neu über die Konditionen ihres Verbleibs und Aufenthaltes zu verhandeln haben.

Die Privilegien sind in Gesamtheit nicht im Original erhalten, sondern in einem 1320 begonnenen Verwaltungsbuch (Erstes Verwaltungsbuch beziehungsweise Gleichzeitiges ältestes Kopialbuch des Rates zu Goslar) überliefert, in dem die Urkunden eines Jahres nachträglich (zumeist am Ende des Jahres) in Kopie aufgenommen wurden. Da es auch auf älteres Material zurückgehende Nachträge gibt, enthält das Buch auch Nachrichten und Urkundenabschriften vor 1320, und umfasst Dokumente aus der Zeit zwischen 1308 und 1353. Der hier behandelte Beleg wurde 1320, also acht Jahre nach Ausstellung eingetragen; zum Verwaltungsbuch vgl. Steinberg, Urkundenwesen (1922), S. 115-133; Steinberg, Goslarer Stadtschreiber (1933), S. 21-23.

Die übrigen Judenprivilegien datieren in das Jahr 1320 (nicht genauer bestimmt, NO01, Nr. 92) sowie auf den 25. Juli 1320 (NO01, Nr. 94), 13. April 1321 (NO01, Nr. 99), 25. Februar 1330 (NO01, Nr. 134), 18. März 1330 (NO01, Nr. 135), 31. März 1330 (NO01, Nr. 137), 26. September 1330 (NO01, Nr. 141), 15. Oktober 1330 (NO01, Nr. 142), 20. Dezember 1330 (NO01, Nr. 143), 27. September 1331 (NO01, Nr. 145), 8. September 1332 (NO01, Nr. 146), 16. Oktober 1332 (NO01, Nr. 147), 31. Oktober 1332 (NO01, Nr. 148), 22. November 1332 (NO01, Nr. 149), 22. Mai 1333 (NO01, Nr. 150), 13. Dezember 1333 (NO01, Nr. 154), 21. Dezember 1333 (NO01, Nr. 155), 21. Dezember 1333 (NO01, Nr. 156), 6. Dezember 1334 (NO01, Nr. 161), 6. Dezember 1334 (NO01, Nr. 162), 3. Juni 1335 (NO01, Nr. 164), 15. Oktober 1335 (NO01, Nr. 166), 29. November 1335 (NO01, Nr. 167), 16. Oktober 1339 (NO01, Nr. 206), 1. November 1339 (NO01, Nr. 207) und den 22. Februar 1340 (NO01, Nr. 212). Fischer, Judenprivilegien (1936), hat die Goslarer Judenbriefe einer eingehenden Gesamtstudie unterzogen und dabei zwischen Steuerverträgen (12 x), Schutzverträgen (5 x) und Aufnahmeverträgen (10 x) unterschieden. Während man für die Jahre 1330 bis 1335 damit rechnen darf, dass uns die Liste der privilegierten Juden vollständig bekannt ist, d. h. das Erstes Verwaltungsbuch alle Judenbriefe überliefert, dürfte für die Zeit davor und danach von Lücken auszugehen sein. Anhand der Schoßliste der 1320er Jahre (NO01, Nr. 100) lassen sich nämlich mindestens drei (für Calman, einen Jordan Widoge sowie Smarian und gar fünf unbekannte Judenbriefe (für einen weiteren Jordan und einen weiteren Samson) vermuten (NO01, Nr. 108 und NO01, Nr. 84). Ein Weiterer (für einen Abraham) lässt sich durch einen Eintrag im Ersten Verwaltungsbuch zum Jahr 1350 erschließen (###NO-c1-003w###). Die weniger dichte Überlieferung ab 1335/40 hängt damit zusammen, dass das Verwaltungsbuch der Stadt immer weniger für die Aufnahme der diesbezüglichen Privilegien verwendet wurde. Seit 1340 diente dazu ausschließlich ein besonderes 'Papier' (der sogenannte quaternus papirus, vgl. ###NO-c1-003w###), auf dem allein Judenbriefe kopiert wurden. Es muss bereits zwischen 1335 und 1340 sukzessive für die Judenbriefe an die Stelle des Verwaltungsbuchs getreten sein. Die Zahl der gültigen Judenbriefe muss groß gewesen sein, ansonsten hätte sich die Führung eines besonderen Verzeichnisses nicht gelohnt. Vgl. dazu und zu den verlorenen Privilegien Fischer, Judenprivilegien (1936), S. 91 f., 137 f. und 147-149; GJ 2, 1, S. 287 und 293 f., Anm. 60 und 64.

(Johannes Deißler) / Letzte Bearbeitung: 22.01.2021

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2020, NO01, Nr. 74, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/NO01/NO-c1-0026.html (Datum des Zugriffs)

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