Quellen zur Geschichte der Juden in den norddeutschen Bistümern (1273-1347)

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Norddeutschland 1, Nr. 47

[um 1300], Osnabrück

Der Osnabrücker Rat lässt um 1300 die Formel eines Judeneides aufzeichnen. Er besteht aus einer Unschuldserklärung mit Anrufung Gottes und des mosaischen Gesetzes, einer fünfteiligen Selbstverfluchung (mit Bezug auf alttestamentliche Begebenheiten) sowie einer abschließenden Bekräftigungsformel, die sich nochmals der Hilfe des Herrn versichert und drei weitere Selbstverfluchungen enthält. Er lautet:

Dass du unschuldig bist der Bezichtigung, die N. gegen dich erhebt, so wahr dir Gott helfe, derselbe Gott, der da war, bevor Laub und Gras waren, der den Himmel hob und die Erde schuf, und bei dem heiligen Gesetz, das Gott Moses auf dem Berge Sinai in einer steinernen Tafel gab, die Moses dir und deinem Geschlecht brachte (Dat du des unschuldich bist der ticht, de di N. (1) tiget, dat di also helpe Got, deselve Got de dar was, er lof unde gras, de den hemel hof unde de erden schof unde bi der heiligen e, de Got gaf Moyse, uf den berge to Synai in ener stenen taflen, de Moyses brechte, di an dinen geslechte).

Wenn du einen Meineid schwörst: Dass dich Abraham, Isaak und Jakob und die fünf Bücher Moses verlassen, dass dich die Erde verschlinge, wie sie es mit Dathan und Abiram und Gomorra tat, dass du in eine Salzsäule verwandelt wirst, wie es Lots Frau geschah, als sie bei der Flucht aus Sodom rückwärts sah, dass dich der Aussatz befalle wie er gerechterweise Jeti, Herrn Elisens Knecht, befiel, dass dich das höllische Feuer verbrenne, das die Leute verbrannte um Herrn Elias' Gebet willen (Uf tu menen et sveres, dat di (2) swike Abraham, Ysaac unde Iacob unde de vif boke Moyses (3); of tu menen et sveres, dat di verslinde de erde, alse dede Dathan unde Abiron unde Gomorra (4), of tu menen et sveres, dat tu werdes gewandelet in ene salte sul, alse Lothes wif wart, darumbe dat se weder sag, do se van Sodoma gink (5); of tu menen et sveres, dat di besta de masersocht, alse bestont to rechte Ieti heren Elisens knechte (6); of tu menen et sveres, dat di verberne dat hellesche vur, dat verbrande de kindere dor heren Helisens gebedes willen (7)).

Dass dieser Eid recht und kein Meineid sei, dass dir also Adonai helfe. Wenn du diesen Eid aber unrecht geschworen hast, dass deine Nachkommenschaft nie mehr zu anderer Nachkommenschaft gemehrt werde noch dein Fleisch zu heiliger Erde komme. Wenn dein Eid unrecht sei, dass du zur ewigen Finsternis verbannt wirst, worin endloses Leid ist. Sprich Amen (Dat dise et recht unde unmene si, dat di also helpe Adonay (8), of tu desen manne unrechte svoren hebbes, dat din sat nummer mer tot anderen sade menget werde, noch din vles tor heiligen erden; of din et unrecht si, dat du verwiset werdes tor ewigen dusternisse, darinne svikene sis sunder ende. Spek amen). (9)

(1) Hier wäre der Name des Klägers einzusetzen.

(2) Das vorangehende Wort ist über der Zeile nachgetragen.

(3) Meineid bedeutet demnach die Abkehr der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob sowie den Verlust der Tora. Zur allgemeinen Bedeutung der Stammväter in den Judeneiden: Zimmermann, Entwicklung (1973), S. 56 f.

(4) Dathan und Abiram gelten als Vertreter des Aufstandes gegen Mose und Aaron, die im Gottesurteil von der Erde verschlungen werden (Num 16). Ihre Erwähnung in Judeneiden ist geläufig - sie werden auch im Erfurter Judeneid aus dem Ende des 12. Jahrhunderts, in der Eidformel der Dortmunder Statuten (WF01, Nr. 5), in Ur- und Langform des Schwabenspiegels, im Görlitzer Rechtsbuch (TW01, Nr. 70), im Nordhäuser Exemplar des Mühlhäuser Reichsrechtsbuchs sowie in der Magdeburger Weichbildvulgata genannt; vgl. Magin, Status (1999), S. 288 f., 291-293, 295 f. und 304-308; Zimmermann, Entwicklung (1973), S. 48, 55 f., 58 f., 83, 87, 102, 105 und 142. Gomorra als die im Alten Testament wegen ihrer sündigen Einwohner durch Gott zusammen mit Sodom durch Schwefel und Feuer zerstörte Stadt (Gen 18,20-19,29).

(5) Als Lots namenslose Frau bei der Flucht aus Sodom - entgegen dem Gebot der von Gott nach Sodom geschickten Engel - auf die Stadt zurücksah, erstarrte sie zu einer Salzsäule (Gen 19,26). Vgl. die Eidformel in den Dortmunder Statuten (WF01, Nr. 5) und in der Langform des Schwabenspiegels; dazu Magin, Status (1999), S. 288 f. und 295 f.; Zimmermann, Entwicklung (1973), S. 83, 102 und 105.

(6) Gemeint ist der in 2 Kön 4f. und 8 mehrfach genannte Gehasi, der Diener des Propheten Elischa (sein Aussatz: 2 Kön 5,27). Er wird auch im Erfurter Judeneid, in den Dortmunder Statuten (WF01, Nr. 5), im Urschwabenspiegel, im Görlitzer Rechtsbuch (TW01, Nr. 70) und in der Magdeburger Weichbildvulgata angeführt; dazu Magin, Status (1999), S. 288 f., 291-293, 304 f. (mit Lücke in der Übersetzung) und 306-308; Zimmermann, Entwicklung (1973), S. 48-50, 55 f., 81, 83, 87, 96, 101, 105 und 142.

(7) Angespielt wird wohl auf die Verbrennung von zwei durch König Ahasja ausgeschickten Soldatengruppen, die den Propheten Elija gefangen setzen sollen (2 Kön 1,9-12). Dieses alttestamentliche Beispiel ist ohne Vorbild in den übrigen mittelalterlichen Judeneiden.

(8) Der Eid verwendet also die jüdische Umschreibung des göttlichen Eigennamen. Vgl. Zimmermann, Entwicklung (1973), S. 55 und Magin, Status (1999), S. 305 mit dem Hinweis, dass die Eidformel des Görlitzer Rechtsbuches (TW01, Nr. 70) als erste deutsche Fassung die in den lateinischen Eiden gebräuchliche Anrufung Adonais übernimmt; vgl. Kisch, Judeneid (1977), S. 141.

(9) Vgl. die Judeneide aus Dortmund (WF01, Nr. 5), Soest (WF01, Nr. 36), Wesel (WF01, Nr. 97) und Hameln (WF01, Nr. 58).

Überlieferung:

Osnabrück, LA, Dep. 3 a 1 III C, Nr. 44, Orig., dt., Perg.

Kommentar:

Der Eid ist auf einem einzelnen, einseitig beschriebenem und nicht begradigtem Pergamentblatt überliefert, das gegebenenfalls bei der Eidesleistung als Vorlage diente. Eine Eingrenzung der Datierung ist allein aufgrund des Sachverhaltes und der Schrift möglich. Das Osnabrücker UB führt das Schriftstück in der Zusammenstellung 'Undatirte Briefe … aus den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts beziehungsweise um 1300' (Osnabrücker UB 4, S. 392). Der Datierung 'um 1300' ist hier gefolgt; vgl. auch Wolf, Mündlichkeit (2003), S. 873 (Nr. 7), und Korlén, Texte (1945), S. 105. Der Judeneid galt jedenfalls bereits im Jahr 1319 als 'alt' (NO01, Nr. 89), was nahelegt, dass seine Aufzeichnung bereits bestehenden Usus schriftlich fixierte. Eine diskriminierende oder diffamierende Absicht ist nicht erkennbar, freilich sind jedoch keine Angaben zu den Vorschiften für das Ritual oder der sogenannten Aufführungssituation überliefert (etwa zur Örtlichkeit oder der Rolle der Torah dabei). Auffallend sind die bewahrten Reime, die starken dialektalen Merkmale sowie die orthographischen Besonderheiten, die 'eine unmittelbare Nähe zur Mündlichkeit' bezeugen; vgl. Wolf, Mündlichkeit (2003), S. 864 und 873 (Nr. 7), sowie Korlén, Texte (1945), S. 105-107. Da sich mit der weitgehend niederdeutschen Sprache nordwestfälischer Prägung auch ein hochdeutsches uf mischt, vermutet Korlén, Texte (1945), S. 107 'eine (mittelbare) südliche Vorlage' vgl. Kühling, Juden (1969), S. 22. Zu den deutschen Judeneiden des Mittelalters vgl. allgemein Bernstein; Geschichte Judeneide (1922); Zimmermann, Entwicklung Judeneid (1973), Kisch, Judeneid (1977); Ziegler, Reflections (1992); Schmidt, Judeneide (2002).

(Johannes Deißler) / Letzte Bearbeitung: 04.05.2021

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2020, NO01, Nr. 47, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/NO01/NO-c1-003x.html (Datum des Zugriffs)

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