Quellen zur Geschichte der Juden in den norddeutschen Bistümern (1273-1347)

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273 Quellen in diesem Teilcorpus. Sie sehen die Quelle 50.

Norddeutschland 1, Nr. 50

[erste Hälfte 14. Jahrhundert], Parchim

Vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Parchim haben sich mehrere Grabsteine erhalten, deren Datum nicht mehr lesbar ist, die aber in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts gehören dürften:

[1.] Grabstein des freigiebigen Herrn Elieser (‎הנדיב ר' אליעזר), Sohn des Herrn Jakob (ר' יעקב), gestorben am zweiten Wochentag (Montag), am 18. Adar / Iijar im Jahr […] nach der kleinen Zählung im sechsten Jahrtausend (ביום ב׳ בשמו[נה ע]שר לירח א[…] […] לפרט באלף ששי)‎. (1)

[2.] Grabstein des Herrn Zacharja (צכריה‏‏), Sohn von Herrn Jakob (ר' יעקב‎‎‏‏), gestorben im Monat Elul im Jahr 5[…] (לירח אלול שנת חמשת אלפים […] לפרט).‎ (2)

[3.] Grabstein der Frau Bibna (ביבנא)‎, Tochter von R. Chaim (ר' חיים‎‎‏‏), gestorben am Freitag, den […] Siwan […] (ביום ו׳ בירח סיון)‎. (3)

[4.] Grabstein der Frau Hanna (Channa) (מרת חנה‏‏), Tochter von R. Mosche (ר' משה‎‎‏‏), gestorben am 25. eines unbekannten Monats im Jahr Fünftausend […] ([…] כ׳׳ו […] שנת חמשת אלפים).‎ (4)

[5.] Grabstein der Frau V[…] ([…]מרת ו) ‎(5), Tochter von Herrn Mose (Mosche) (ר' משה‎‎‏‏), gestorben am 25. eines unbekannten Monats und Jahrs (כ׳׳ה בו שנת אלפים).‎ (6).

[6.] Fragmentarisch erhaltener Grabstein einer Frau Rosa. (7)

[7.] Grabstein der Frau […], Tochter von R. […] ([…] בת ר)‎. (8)

[8.] Grabstein des/der […], Sohnes/Tochter von […], gestorben im Jahr 18 oder 28 des sechsten Jahrtausends (שנת חיי […] לירח […] באלפ ששי […]).

(9)

(1) Der Monat beginnt mit א, aufgrund des zur Verfügung stehenden Platzes kommen lediglich die Monate Adar (אדר) und Iijar (אייר) in Frage (MUB 10, Nr. 7399s, S. 617). Die von Donath, Geschichte (1874), S. 297, zusätzlich ins Spiel gebrachten Monate Av (אב) und Elul (אלול) scheiden aufgrund der Kürze und der fehlenden Oberstriche des Lamed (ל) aus (die bei der Beschaffenheit des Steines zumindest ansatzweise erkennbar sein müssten). Der 15. Adar weist auf den Februar beziehungsweise Anfang März hin, der 15. Ijjar fällt in den April oder Mai. Nach Auffassung von Donath, Geschichte (1874), S. 297 handelt es sich bei einem Textfragment (hier [8.]) um eine aufgrund der örtlichen Bedingungen unzureichende Teillesung dieses Steines, demnach wäre MUB 10, Nr. 7399s die Besserlesung von MUB 10, Nr. 7399a. Allerdings machen die Buchstabenfolgen der mittleren Zeilen diese Einschätzung unwahrscheinlich. Aufbewahrungsort: Parchim, Marienkirche, Ostwand des Nordanbaus (Gemeindesaal), rechter Stein (Orig., Stein). Edition: MUB 10, Nr. 7399s, S. 617; Donath, Geschichte (1874), S. 297. Der Stein ist erwähnt in Brocke/Ruthenberg/Schulenburg, Stein (1994), S. 542 f.

(2) Nur die Angaben zum Monat (Elul = August oder September) und zum Jahrtausend waren zu Zeiten Tychsens noch erhalten. Aufbewahrungsort: Parchim, Äußeres Kreuztor (Stein nach Abbruch des Kreuztores 1847/48 verloren). Edition: MUB 10, Nr. 7399r, S. 616 f.; Donath, Geschichte (1874), Nr. 3, S. 308; Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 1, S. 43 f. (mit Tafel II 1) [beruhend auf Rostock, UB, Mss. orient. 254, S. 284, oberer Stein]. Der Grabstein ist auch erwähnt in Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 419.

(3) Nach MUB 10, Nr. 7399v, S. 618, der Frauenname Viviana, nach Beider, Dictionary (2001), S. 487 f. handelt es sich um eine Form von Bune. Aufbewahrungsort: Parchim, Äußeres Kreuztor (Stein nach Abbruch des Kreuztores 1847/48 verloren). Edition: MUB 10, Nr. 7399v, S. 618; Tychsen, Leichensteine (1768), Tafel II 13 (nur Stich, keine Aufnahme in die Liste und Übersetzung) (beruhend auf Rostock, UB, Mss. orient. 254, S. 285, unterer Stein sowie S. 295, unterer Stein).

(4) Das Jahresdatum und der Monat sind verloren. Aufbewahrungsort: Parchim, Äußeres Kreuztor (Stein nach Abbruch des Kreuztores 1847/48 verloren). Edition: MUB 10, Nr. 7399q, S. 616; Donath, Geschichte (1874), Nr. 4, S. 308; Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 4, S. 45 (mit Tafel II 4) [beruhend auf Rostock, UB, Mss. orient. 254, S. 284, mittlerer Stein]. Die Inschrift ist erwähnt in Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 419.

(5) Vom Namen hatte sich zur Zeit Tychsens (Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 11, S. 46) lediglich der Anfangsbuchstabe ו erhalten.

(6) Aufbewahrungsort: Parchim, Äußeres Kreuztor (Stein nach Abbruch des Kreuztores 1847/48 verloren). Edition: MUB 10, Nr. 7399u, S. 617; Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 11, S. 46 (mit Tafel II 11) [beruhend auf Rostock, UB, Mss. orient. 254, S. 296, unterer Stein]. Erwähnung der Inschrift in Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 417 (mit Datierung 1445).

(7) Zu lesen ist: רסא, was - auch wenn die vorangehenden Buchstaben verloren sind - bei stummen Aleph auf Ros, Ross oder Rose bzw. bei stimmhaften auf Rosa oder Rusa hindeutet. Der Frauenname bestätigt sich durch das nachfolgende 'Tochter von' (בת). Zum Namen s. Beider, Dictionary (2001), S. 563-565 (Royze). Alles übrige Gelesene gehört zum üblichen Formular. Aufbewahrungsort: Parchim, Stadtmuseum (Orig., Stein; ehemals im Privathaus Flörkestraße 44a verbaut). Erwähnt ist der Stein in Köhncke, Begräbnisplatz (1993), o. S.

(8) Das Todesdatum ist bis auf die Zahlzeichen für 1000 (א]לפים]) verloren. Aufbewahrungsort: Parchim, Äußeres Kreuztor (Stein nach Abbruch des Kreuztores 1847/48 verloren). Edition: MUB 10, Nr. 7399t, S. 617; Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 9, S. 45 (mit Tafel II 9) [beruhend auf Rostock, UB, Mss. orient. 254, S. 285, mittlerer Stein]. Erwähnung der Inschrift in Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 419.

(9) Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 5, S. 40 und mit ihm Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 406 lesen 18 ( חי , also 1257/58), das MUB 10, Nr. 7399a, S. 611 vermutet das Jahr 28 ( חיי , im Anagramm, also 1267/68, was jedoch unüblich wäre und deshalb wenig wahrscheinlich ist). Da der Stein nicht mehr existiert, kann die Lesung nicht überprüft werden. Nach Meinung von Donath, Geschichte (1874), S. 297 handelt es sich bei dem Textfragment um eine aufgrund der örtlichen Bedingungen unzureichende Teillesung des Steines (hier Nr. 1.). Aufbewahrungsort: Parchim, Marienkirche (verloren). Edition: MUB 10, Nr. 7399a, S. 611; Donath, Geschichte (1874), S. 297; Tychsen, Leichensteine (1768), Nr. 5, S. 40 (mit Tafel I Mitte oben links) [beruhend auf Rostock, UB, Mss. orient. 254, S. 283, oberer Abschnitt]. Erwähnung der Inschrift in Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 406 und Cleemann, Chronik (1825), Nr. 6, S. 314 [dt. Übers.].

Überlieferung:

Diverse Aufbewahrungsorte, hebr.

  • siehe die Anmerkungen zu den einzelnen Steinen.

Kommentar:

Verschiedene jüdische Grabsteine des mittelalterlichen Parchimer Judenfriedhof (gelegen in der ehemaligen Gemarkung Auf dem Judenkaiser, heute die Gegend zwischen Flörkestraße, Cordesiusstraße bzw. dem Plümperwiesenweg), der vermutlich nach den Pestpogromen von 1350 (oder früher ?) offen gelassen wurde, haben später zweckentfremdete Wiederverwertungen erfahren, wodurch sie selbst oder zumindest der Inhalt ihrer Inschrift erhalten geblieben ist. Zum mittelalterlichen jüdischen Friedhof und seiner Lage: Kaelcke/Keuthe, Judenkaiser (1997), S. 13-15 (mit Reproduktion einer Karte von 1828); zur Ableitung von Judenkaiser von keiwer ( קבר ) = Grab: Christophersen, Friedhöfe (2012), S. 134 f. (mit Anm. 27); zur Wiederverwendung der Mazevot: Stoffels, Wiederverwendung (2012). Ebd., S. 53, 115, 147 sowie Abb. 29 zu Parchim.

1. Mehrere Grabsteine wurden als Spolien im Nordanbau der St. Marienkirche in der Neustadt verbaut. Die 1278 geweihte Kirche erfuhr in der erste Hälfte des 15. Jahrhunderts einen Anbau an der Nordseite der Kirche (Baubeginn: 1420/30 ?), bei dem Leichensteine im Mauerwerk und auch als Schwelle für das nördliche Portal verbaut wurden. Der Orientalist Oluf Gerhard Tychsen (1734-1815), Professor an der Universität Bützow von 1763 bis 1789, untersuchte die Steine erstmals bei einem Besuch im Jahr 1767 und publizierte im darauffolgenden Jahr eine Zusammenstellung mit sieben Grabsteinen und ihren Inschriften. S. Tychsen, Leichensteine (1768), S. 38-43 und Cleemann, Chronik (1825), S. 313 f. Tychsen schreibt dazu: 'Die Zahl dieser Steine kan nicht genau bestimmet werden, weil die mehresten unter der Horizontalfläche des Fußbodens liegen, und nur von einigen die Ecken, darauf ein paar Buchstaben stehen, zu sehen sind. Neune habe ich mit völligen Inschriften gezählet, darunter aber sechs nur so lagen, daß ich sie abschreiben konte. Die übrigen drey oder noch mehrere, lagen hinter den befestigten Stüten, welche ich mit Verdruß ungetastet lassen muste. Ueberdem waren sie alle so dick mit Kalk übertüncht, daß ich die gröste Mühe von der Welt hatte, in kriechender und liegender Stellung die Buchstaben davon zu saubern. Der Küster sahe mich für einen Schatzgräber und Hexenmeister an, und wolte mich ungerne mehr in die Kirche lassen.' S. Tychsen, Leichensteine (1768), S. 38 f., Anm. *. Vgl. auch Tychsen, Geschichte (1766), S. 19 f. mit Nachricht über seine ersten fruchtlosen Versuche, Abschriften oder Bilder der Inschriften zu erhalten. Die aus der Beschäftigung mit den Parchimer Grabsteine herrührenden Aufzeichnungen Tychsens haben sich in der Sondersammlung der Universitätsbibliothek Rostock unter der Signatur Mss. orient. 254 erhalten (auf den Seiten 279-287 und 294-296). Schon der ältere Chronist Parchims, Michael Cordesius (1634-1676), berichtete im Jahr 1670 von zehn Steinen im Anbau und einem Schwellenstein an der Kirchentür, welche alle hebräische Zeichen aufweisen würden. S. Cleemann, Chronik (1825), S. 19. Im MUB 10 wurden 1877 (Nr. 7399, S. 611-618) acht Inschriften publiziert. Soweit eine genauere Datierung möglich ist, stammen die Steine aus den Jahren 1324 bis 1344. In den Jahren 1975-80 kam es durch das Sonderbauprogramm des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zur letzten Umgestaltung im Nordanbau. Es wurde eine Zwischendecke eingefügt, im Obergeschoss entstand eine Winterkirche, im ebenerdigen Untergeschoss ein Gemeinderaum, Sanitärräume und eine Küche. Dabei wurde eine - bisher nicht zugängliche - Inschrift in das Kirchenschiff versetzt (NO01, Nr. 225), eine weitere ist seitdem nicht mehr sichtbar (NO01, Nr. 219). Der oben erwähnte Schwellenstein des Nordportals (NO01, Nr. 157) wurde im August 2001 in das Museum Parchim überführt. Zu seiner Nutzung als Schwellenstein: Stoffels, Wiederverwendung (2012), S. 115. Bei einer Bestandsaufnahme im Jahr 1993 wurden zwei weitere, bislang unbekannte Steine mit Inschriften erfasst (NO01, Nr. 225 und NO01, Nr. 169) sowie an der östlichen Außenmauer des Anbaus etwa 20 weitere Steine, die mit ihren Inschriften in der Wand vermauert seien, beobachtet. Vgl. Brocke/Ruthenberg/Schulenburg, Stein (1994), S. 542 f. Ob es sich bei diesen Geschiebesteinen aber wirklich um ehemalige Grabsteine handelt, muss dahingestellt bleiben, weil die verwendeten Steine meist nur auf einer einzigen Seite hinsichtlich Planheit die Anforderungen für die Aufnahme von Schrift und ebenen Wandeinbau erfüllen. Es dürfte trotzdem davon auszugehen sein, dass weitere Grabsteine durch Einbau oder Verdeckung nicht zugänglich sind. Vgl. zur Kirche und den Grabsteinen: Schlie, Denkmäler (1901), S. 442-459, insbes. 447; Brause, St. Marienkirche (2014), insbes. 13, 24, 28, 30 f., 139. Übersicht: NO01, Nr. 107; NO01, Nr. 169; NO01, Nr. 180; NO01, Nr. 181; NO01, Nr. 219; NO01, Nr. 225; NO01, Nr. 246 sowie hier, Nr. 1. und 8.

2. Weitere Grabsteine fanden Verwendung im Fundament des um 1435 errichteten äußeren Kreuztors, einem Teil der mittelalterlichen Befestigungsanlage im Süden der Stadt (heute: Moltkeplatz), in direkter Nachbarschaft zum jüdischen Friedhof. Tychsen entzifferte die Steine ebenfalls erstmals bei seinem Besuch im Jahr 1767 und gab die Inschriften von elf Grabsteinen wieder. S. Tychsen, Leichensteine (1768), S. 43-46 und Cleemann, Chronik (1825), S. 314 f. 1847/48 erfolgte der Abriss des inneren und äußeren Kreuztores, dabei gingen die Steine verloren, vermutlich wurden sie zum Straßenbau wiederverwendet. Das MUB 10 gab 1877 (Nr. 7399, S. 611-618) zwölf Inschriften wieder (eine von Tychsen zwar erwähnte und per Stich 'abgebildete', aber ohne nähere Angaben gebliebene Inschrift hinzunehmend). Soweit eine genauere Datierung möglich ist, stammen die Steine aus den Jahren 1304 bis 1345. Zum Tor, seinem Abriss und zum Schicksal der Steine: Schlie, Denkmäler (1901), S. 461 f.; Boesch, Kreuzthor (1895), S. 5 f.; Cordshagen, Geschichte (1998), S. 16. Übersicht: NO01, Nr. 53; NO01, Nr. 116; NO01, Nr. 126; NO01, Nr. 186; NO01, Nr. 202; NO01, Nr. 228; NO01, Nr. 255 sowie hier Nr. 2.-5. und 7.

3. Vereinzelte Grabsteine wurden in anderen Gebäuden verbaut, anderweitig genutzt oder wurden bei Erdarbeiten entdeckt: a) Grabstein der Rosa, ehemals am Haus Flörkestraße 44a angebracht, der sich heute im Museum Parchim befindet (hier, 6.); b) Grabstein eines oder einer Unbekannten. Der Stein befand sich im Jahr 1975 in der Grundmauer eines Gewächshauses der ehemaligen Gärtnerei Peper (Wilhelm-Braun-Str. 1; heute Cordesiustraße/Plümperwiesenweg). Der Stein ist durch Abriss und Neubebauung verloren gegangen. S. Albrecht, Juden (1988), S. 15 (mit Anm.); c) ein weiterer Stein wurde vor 1877 nach Schwerin verbracht (vgl. MUB 10, S. 613) und befindet sich heute im Museum Hagenow (NO01, Nr. 153). Er soll aus dem abgebrochenen Kreuztor stammen. Das lässt sich jedoch nicht belegen, da Tychsen den Stein nicht beschrieben hat. Er könnte also allenfalls aus einem diesem nicht zugänglichen oder sichtbaren Teil des Tores stammen; d) und e) zwei weitere Grabsteine - datiert auf die Jahre 1328 und 1341 - konnten bei Dammarbeiten vor dem ehemaligen Kreuztor in den 1920er-Jahren geborgen werden. Sie wurden auf den neuen jüdischen Friedhof am Westufer des Wockersees überführt. S. Harck, Studien (2014), S. 517 und Brocke/Ruthenberg/Schulenburg, Stein (1994), S. 541. Einer davon - der ältere - könnte erhalten geblieben sein. Nach Auflassung des neuen jüdischen Friedhofes wurden nämlich die wenigen dort erhalten gebliebenen Grabsteine auf den städtischen Friedhof überführt. Ebenda errichtete man 1971 eine Gedenkstätte, auf dem die Grabsteine Platz fanden, einer davon - etwas abseits stehend - stammt aus dem Mittelalter und datiert ebenfalls auf das Jahr 1328 (NO01, Nr. 122). Vgl. Brocke/Ruthenberg/Schulenburg, Stein (1994), S. 543 f.; f) und g) 1935 sollen schließlich zwei weitere, als Straßenpflaster und Prellstein verwendete, Grabsteine von unbekannten Orten entfernt worden sein. Vgl. Albrecht, Juden (1988), S. 15. Nähere Angaben zu Datierung und Inhalt fehlen.

Weitere Grabsteine sind bislang nicht dokumentiert worden. 1825 berichtete Cleemann allerdings in seiner Chronik der Stadt von weiteren beobachteten Grabsteinen im Areal des ehemaligen Friedhofes. Vgl. Cleemann, Chronik (1825), S. 312; Donath, Geschichte (1874), S. 33. Im Jahr 1882 wurden ferner bei Bauarbeiten im Gebiet etwa 200 Skelette beobachtet, und auch im Sommer 1996 wurden bei Tiefbauarbeiten (Augustenstraße) Knochenfunde gemacht. Diese deuten alle auf den alten Judenfriedhof hin, ohne dass weitere Grabsteine bekannt gemacht wurden. Vgl. Kaelcke/Keuthe, Judenkaiser (1997), S. 13 und 15; Cordshagen, Geschichte (1998), S. 17; Harck, Studien (2014), S. 516. Die Nutzung von Grabsteinfragmenten in Privathäusern jüngeren Datum (s. oben 3 a und b) lässt allerdings darauf schließen, dass es vereinzelt Funde gegeben haben muss. Ob der im Juni 2015 zur Anlage einer Fischtreppe beim Zufluss der Alten Nebel in den Bützow-Güstrow-Kanal angelieferte Riegelstein, der zufällig als jüdischer Grabstein identifiziert wurde, Parchim zuzuordnen ist, ist ungewiss. Dieser Grabstein eines Tanchum, Sohn des Salomo, der sich wohl auf die 30er-Jahre des 14. Jahrhunderts datieren lässt, stammt aus einem mehrmals umgeschichteten Haufwerk, dessen genaues Herkommen nicht mehr eruiert werden kann (vgl. ###KA-c1-0001###).

Die meisten der Mazevot sind von Tychsen, Donath und später im MUB (nach Lesung von Franz Dehlitzsch) ediert worden. Sie datieren - soweit ein Todesdatum genannt bzw. erhalten geblieben ist (etwa die Hälfte der Steine ist ohne genaues Datum oder verwertbare Angaben) - sämtlichst auf die Zeit zwischen 1304 und 1345. Ein ursprünglich von Tychsen gelesene Jahr 1258 (NO01, Nr. 50 [Nr. 8.]) ist nicht haltbar. S. Donath, Geschichte (1874), S. 30. Die Grabsteine sind einfach und schmucklos und haben in der Regel die Einleitungsformel ציון הלז הוקם על ראש ('Dieser Stein ist errichtet worden zu Häupten der/des …'). Eine Endformel tritt nur vereinzelt auf (etwa: ת'נ'צ'ב'ה , 'möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens'). Zwei Grabsteine weisen Besonderheiten auf: 1. Ein Grabstein (NO01, Nr. 157) nennt den Vater des Verstorbenen den Weisen oder Gelehrten Petachja ( ב'ה'ח'ר' פתחיא ). Das deutet darauf hin, dass es sich bei ihm um einen angesehenen und gelehrten Mann handelte. Der Stein hat außerdem die Wunschformel מתתו תהא כפרתו ('Sein Tod sei seine Sühne'), was auf ein Glaubensmartyrium des Verstorbenen hindeuten könnte. Die Formel ist bisher nur aus Parchim und Toledo bekannt. Vgl. Donath, Geschichte (1874), S. 30-32; Albrecht, Juden (1988), S. 16 f. 2. Ein anderer Grabstein (NO01, Nr. 181) ist ein Doppelepitaph für zwei Personen, die beide an einem Tag (5. November 1337) auf außerordentliche Weise zu Tode kamen. Auch die Väter der beiden Toten waren der Inschrift zufolge gewaltsam zu Tode gekommen. Vgl. Donath, Geschichte (1874), S. 32 f. Die Mehrzahl der Steine stammt von Frauen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass auf dem Friedhof eine konsequente Trennung der Grabstätten von Männern und Frauen praktiziert wurde und dass sich die Erbauer von Kirchenanbau und Kreuztor bevorzugt aus dem Teil des Friedhofs mit Frauenbestattungen 'bedienten'. Vgl. Tychsen, Leichensteine (1768), S. 49. Die Erklärung von Zunz, dass die Frauengrabsteine weniger ansehnlich gewesen seien und deshalb Verwendung gefunden hätten, ist nicht nachvollziehbar. Vgl. Zunz, Zur Geschichte und Literatur 1 (1845), S. 420.

Aus der Vielzahl der Grabsteine - von denen Tychsen letztlich nur 18 inschriftlich verwerten konnte - schloss dieser auf eine große jüdische Gemeinde und erklärte Parchim sogar zum Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Mecklenburg. Seine Ansicht nach hätten die Juden schon lange vor Heinrich dem Löwen und zur Zeit der heidnischen Wenden in Parchim Heimat gefunden. Tychsen, Leichensteine (1768), S. 46 f. Vgl. Albrecht, Juden (1988), S. 16; Cleemann, Chronik (1825), S. 317-319; Donath, Geschichte (1874), S. 29 f. Wenngleich diese Vermutungen nicht zutreffen, ist Tychsens Verknüpfung der Parchimer Grabsteine mit der Bedeutung des Ortes für die mecklenburgischen Juden nicht von der Hand zu weisen. Da nicht jeder von Juden besiedelte Ort einen eigenen Friedhof hatte, kam solchen mit Begräbnisstätte eine über den Ort selbst hinauswirkende, zentrale Funktion zu. Sie waren damit gleichsam 'Vororte' und zeichneten die dort ansässige Gemeinde aus, denn nur eine etablierte Gemeinde konnte ein permanentes Erinnern vor Ort gewährleisten. Vgl. Christophersen, Friedhöfe (2012), S. 132 f., 137; Breuer/Guggenheim, Gemeinde (2003), S. 2089; Barzen, Regionalorganisation (2002), S. 301-304; Haverkamp, Gemeinschaften und Räume (2006), S. 275; Cluse, Organisationsformen (2006), S. 291-293. Für das Fürstentum Mecklenburg - ähnlich wie in Brandenburg dürfen wir wohl auch hier davon ausgehen, dass sich Friedhofsbezirke nicht wie im Westen des Reiches an Bistumsgrenzen, sondern an den politischen Verwaltungseinheiten orientierten, vgl. Christophersen, Friedhöfe (2012), S. 146 f. - ist außer Parchim kein anderer jüdischer Friedhof nachgewiesen (auch in Wismar nicht). In den Nachbar'ländern' sind Friedhöfe in Rostock (NO01, Nr. 11) und Güstrow (GJ 2, 1, S. 311) belegt, weiter im Süden ggf. Pritzwalk (Prignitz) (GJ 2, 2, S. 665). Die Grabsteine sind jedenfalls unsere einzigen Belege für eine jüdische Präsenz in Parchim in der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Ein Beleg von Ende 1344 (NO01, Nr. 245) muss nicht unbedingt in Parchim ansässige Juden als Pfandleiher meinen. Erst für 1364 liefert das Parchimer Stadtpfandbuch 1351-1457 wohl einen direkten schriftlichen Beleg für jüdische Anwesenheit (MUB 16, Nr. 10129, S. 653-655: dort S. 653; datiert auf nach 1370). Vgl. Cleemann, Chronik (1825), S. 167; Donath, Geschichte (1874), S. 34 f.; skeptisch GJ 2, 2, S. 645. Ältere Einträge im Stadtpfandbuch zum Jahr 1356 (MUB 14, Nr. 8188, S. 11: de Judeorum habitacionibus; ebd., Anm: domum suam stantem in opposito ville Judeorum) nennen lediglich ehemals von Juden bewohnte Häuser und das Judenviertel. Vgl. Cleemann, Chronik (1825), S. 210 f., 316 f.; Donath, Geschichte (1874), S. 34; Albrecht, Juden (1988), S. 15. Paulus, Architektur (2007), S. 313 vermutet in der 1356 erwähnten domus die Synagoge.

Da der jüngste Grabstein auf das Jahr 1345 zu datieren ist, ist davon auszugehen, dass der Friedhof danach oder spätestens mit in der Gegend möglichen Pestpogromen nicht mehr genutzt wurde. Salfeld hat in diesem Zusammenhang auf einen ansonsten singulären Beleg für Verfolgungen in Mecklenburg (מיקלבורג ) (zum Jahr 1349) hingewiesen (Martyrologium Nürnberger Memorbuch, S. 78 und 269). Er stammt aus einer 'Liste von Ortschaften und Rabbinern, … die Verfolgungen von 1349 betreffend', die dem alten Memorbuch von Metz entnommen sind. Salfeld hat die geographische Durchmischung der Orte des Eintrages unkommentiert gelassen und erläuternd lediglich auf den bekannten Rostocker Prozess des Vikars Michael Hildensem gegen Bürgermeister, Ratsmänner und Bürger Rostocks wegen Misshandlung bei der Judenverfolgung von 1350 (MUB 10, Nr. 7143, S. 444-456) und auf Donath, Geschichte (1874) hingewiesen.

S. allgemein zu den Mazevot Parchims: Heister, Geschichte (1865), S. 382 f.; Donath, Geschichte (1874), S. 29-33; Pinthus, Studien (1930/31), S. 116; GJ 2, 2, S. 645 f.; link opac.regesta-imperii.de/id/2519918>Eschwege, Geschichte (1991), S. 991, 1049 f.; GJ 3, 2, S. 1086; Fouquet/Rabeler, Juden (2012), S. 23 f.

(Johannes Deißler und Andreas Lehnertz) / Letzte Bearbeitung: 11.05.2021

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2020, NO01, Nr. 50, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/NO01/NO-c1-005x.html (Datum des Zugriffs)

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