Von Werra und Leine bis zum Bober: Quellen zur Geschichte der Juden in Thüringen und Sachsen

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Thüringen/Sachsen 1, Nr. 78

1303 [März 14]

Der Autor der Cronica s. Petri Erfordensis moderna schreibt: Im selben Jahr (1) töteten die ungläubigen Juden in Weißensee, den Spuren ihrer Vorfahren folgend, heimlich den Sohn eines Bürgers (2) auf jämmerliche Weise. Sie erhängten ihn in der Hütte eines Weinbergs bei der Stadt mit seinem eigenen Gürtel so, als sei er durch seine eigene Hand gestorben. Als er nach drei Tagen gefunden und in die Stadt gebracht worden war, ereigneten sich zahlreiche Wunder, woraufhin die Juden in derselben Stadt sowie in weiteren Städten (3) umgebracht wurden. Dasselbe sollte auch in Erfurt geschehen, doch konnten die Juden dies durch die Zahlung einer großen Geldsumme an die Ratsvorsteher und weitere Angehörige des Meliorats abwenden: Eodem anno impii iudei, sequentes vestigia patrum suorum, cuiusdam castrensis filium in Wizzense comprehendentes, secrete morte miserabili occiderunt. Quem in tugurio cuiusdam vinee prope dictam civitatem in proprio cingulo suspenderunt, quasi se suis manibus suffocasset. Qui post triduum ibidem inventus et in civitatem reductus multis miraculis a domino insignitur; pro qua re omnes iudei in eadem civitate sunt occisi et in aliis quibusdam civitatibus. Quod idem Erphordiae evenisset, nisi quod multa eorum pecunia apud magistros consulum et reliquos meliores civitatis defensavit.

(1) Die Passage bezieht sich auf den vorhergehenden Eintrag: Anno domini MCCCIII. Die erschlossene Datierung der Verfolgung auf den 14. März ergibt sich aus der Mitteilung des Nürnberger Memorbuchs, wonach an diesem Tag mehr als hundert Juden in Weißensee ermordet wurden (NM01, Nr. 70). Wenn der Leichnam tatsächlich drei Tage unentdeckt in einer Hütte in einem Weinberg gehangen haben sollte, ist vom Tode des Knaben am 11. März 1303 auszugehen. In diesem Jahr fiel das jüdische Purimfest auf diesen Tag.

(2) In einer bis 1406 reichenden Handschrift der thüringischen Fortsetzung der Peterschronik aus dem Dresdner Minoritenkonvent wird der tot aufgefundene Junge mit dem Namen Konrad (Cunradus) bezeichnet; sein Vater, Bürger von Weißensee, wird dictus de Somerde genannt, in der späteren Überlieferung erscheint er zudem namentlich als Berthold; vgl. Cronica s. Petri Erfordensis moderna, S. 323 und 141-143. Der zeitnah schreibende Chronist Siegfried, Priester im nahe gelegenen Ballhausen, gibt den Namen des darüber hinaus als Scholar bezeichneten Knaben ebenfalls mit Konrad wieder; auch sei er Sohn eines gleichnamigen Ritters oder Ministerialen in Weißensee gewesen (TW01, Nr. 228). Im Jahre 2013 sind im Zuge von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche von Weißensee im Mittelgang des Kirchenschiffs die Gebeine des 1303 unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen und schon bald als heilig verehrten Knaben ausgegraben worden; vgl. www.thueringer-allgemeine.de/startseite/detail/-/specific/Gebeine-des-Guten-Konrad-in-Stadtkirche-Weissensee-entdeckt-423266037 [Zugriffsdatum: 3. November 2015].

(3) Das Nürnberger Memorbuch nennt ferner Gotha, Kölleda und Tennstedt (NM01, Nr. 69 und NM01, Nr. 71).

Überlieferung:

Göttingen, SUB, Cod. ms. hist. 88, fol. 207r, Abschr. (1506), lat., Papier; zu den weiteren Abschriften vgl. die Einleitung zur Edition von Holder-Egger.

  • Cronica s. Petri Erfordensis moderna, S. 323;
  • zu älteren Editionen vgl. ebd.
  • Lämmerhirt, Anfänge (2015), S. 75;
  • Ruf-Haag, Juden (2009), S. 48;
  • Lämmerhirt, Ritualmordlegende (2007), S. 746-748;
  • Lämmerhirt, Juden (2007), S. 17;
  • Möncke, Konrad (2006), S. 277;
  • GJ 2, 2, S. 875 f.;
  • Neufeld, Juden 1 (1917), S. 59 f.;
  • Jaraczewsky, Geschichte (1868), S. 20 f.

Kommentar:

Zu den Verfolgungen von Weißensee vgl. auch TW01, Nr. 79, TW01, Nr. 80 und TW01, Nr. 77. Zur Cronica s. Petri Erfordensis moderna vgl. MZ01, Nr. 21. Die seit dem späten 13. Jahrhundert kaum noch eigenständige Chronik des Klosters Reinhardsbrunn übernimmt fast wörtlich die Schilderung der Peterschronik (Cronica Reinhardsbrunnensis, S. 644). Die Thüringische Fortsetzung der Sächsischen Weltchronik überliefert den Text in annähernd wörtlicher Übersetzung; allerdings wird der Knabe als der gute sente Conrad bezeichnet, und die Erfurter borgere werden in ihrer Gesamtheit als diejenigen genannt, die von der Zahlung der Juden profitierten (Chronici Saxonici continuatio Erfordensis, S. 471; Thüringische Fortsetzung, S. 309). Eine Übernahme des Textes des Peterschronik erfolgte in der etwa 1494 verfassten Kirchenchronik des Erfurter Benediktiners Nikolaus von Siegen (Chronicon ecclesiasticum Nicolai de Siegen, S. 372); vgl. Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 104 f.; Schmidt, Chronicon (1989). Wörtlich wurde die Passage aus der Cronica s. Petri Erfordensis moderna auch in den zwischen 1508 und 1514 anonym verfassten Erphurdianus antiquitatum variloquus übertragen, als dessen Autor der Herausgeber Magister Johann Werlich, Dekan der Universität Erfurt, vermutet (Erphurdianus antiquitatum variloquus, S. 7 und 11); vgl. auch Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 108 f. Eine verkürzte deutschsprachige Version gibt die Thüringische Landeschronik Johannes Rothes wieder, die allerdings davon ausgeht, dass die Juden als Konsequenz aus dem Ereignis in ganz Thüringen verfolgt worden seien (TW01, Nr. 80, Kommentar). Möglicherweise nimmt Rothe hierbei Bezug auf die Darstellung Siegfrieds von Ballhausen, der zweiten zeitgenössischen Chronik zu den Ereignissen. Dieser ging von einer Beteiligung Markgraf Friedrichs von Meißen, des Sohns und Nachfolgers Landgraf Albrechts von Thüringen, aus (TW01, Nr. 79.) Eine ausführlichere Schilderung des Geschehens gibt ebenfalls Johannes Rothe in seiner 1421 abgeschlosenen Thüringischen Weltchronik (TW01, Nr. 80). Die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandene Fassung Eccardiana der Historia de landgraviis Thuringiae lehnt sich eng an den Text der Cronica s. Petri an, berichtet darüber hinaus explizit, dass der Leichnam von Juden durchstochen und das Blut entnommen worden war, erwähnt aber nicht die Verfolgung der Juden und die Geldzahlung der Erfurter Juden an den Rat (Historia de landgraviis Thuringiae, Sp. 451); zur Eccardiana vgl. Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 120. Dagegen gibt die um 1396 im Eisenacher Dominikanerkloster entstandene Fassung Pistoriana die Schilderung nur in Teilen wieder (Historia Erphesfordensis anonymi scriptoris de landgraviis Thuringiae, S. 1336); vgl. Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 119.

(jmü.) / Letzte Bearbeitung: 06.01.2017

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2015, TW01, Nr. 78, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/TW01/TW-c1-004e.html (Datum des Zugriffs)

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