Von Werra und Leine bis zum Bober: Quellen zur Geschichte der Juden in Thüringen und Sachsen

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Thüringen/Sachsen 1, Nr. 80

1303 [März 14]

In seiner 1421 abgeschlossenen Thüringischen Weltchronik schreibt der Eisenacher Gelehrte Johannes Rothe zu der Judenverfolgung in Weißensee: Im Jahre 1303 (in demselben jare also man zalte nach Cristus gebort tußent 303 jar) erneuerten die unseligen juden ihr an Christus begangenes Verbrechen, als sie im thüringischen Weißensee (yn Doryngen zu Wißensee) den Konrad (Conradt) geheißenen Sohn eines Burgmanns abends heimlich entführten und in einer Hütte an einem See in einem Wingert seinen Leichnam (1) mit Pfriemen und Ahlen traktierten und das Blut in Gefäßen auffingen. Anschließend zogen sie ihm die Kleider, die sie ihm zuvor ausgezogen hatten, wieder an und hängten ihn an seinem eigenen Gürtel auf. Die Suche der Freunde des Knaben verlief ergebnislos, bis der Besitzer des Wingerts den Leichnam in seiner Hütte fand. Dieser suchte den Vater und die Freunde Konrads auf und teilte ihnen mit, dass der Junge sich in seiner Hütte (2) mit einem Gürtel selbst erhängt hatte. Unter seinen Eltern und Freunden erhob sich große Klage, weniger wegen des Ablebens des Knaben als wegen der Schande des Freitods (wenn on die schemde, das her sich selber leibelos gethan hatte, werts tedt, denn seyn tod). Man ließ den Knaben in die Stadt bringen in der Absicht, ihn auf einem bestimmten Feld zu begraben. Als man diesen jedoch auszog, entdeckte man, dass der Körper mit Wunden übersät und blutleer war. Daraufhin wurden Prälaten und weitere Geistliche zur Beschau des Leichnams hinzugezogen. (3) Diese gestatteten eine feierliche Bestattung in geweihter Erde. Der Landgraf von Thüringen (4) ließ daraufhin alle seine Juden ermorden oder festnehmen, sodass nur wenige überlebten. (5)

(1) Dies setzt die vorherige Ermordung des Knaben voraus.

(2) Im Text steht her sich selbir erhangen hette yn seyme weyngarte; die zuvor genannte Hütte wurde hier ausgelassen.

(3) Dass die Geistlichen zu dem Schluss kamen, dass es sich nicht um einen Selbstmord handelte, wird nicht explizit gesagt, ist jedoch unzweifelhaft aus den folgenden Aktionen zu erschließen. Erstaunlicherweise berichtet Rothe nichts von Wundern, die sich im Umfeld des Leichnams ereignet haben sollen.

(4) Landgraf von Thüringen war um diese Zeit noch Albrecht der Entartete, der im Jahre 1307 zugunsten seines Sohnes Friedrich des Freidigen, seit 1291 Markgraf von Meißen, auf die Landgrafschaft verzichtete. Nach Siegfrieds von Ballhausen zeitgenössischer Darstellung war Friedrich der Freidige an der Verfolgung der Juden beteiligt (TW01, Nr. 79).

(5) Zwar gibt es keine Gewähr dafür, dass das Nürnberger Memorbuch sämtliche Judenverfolgungen bis 1350 erfasst, doch nennt es neben Weißensee lediglich noch Gotha, Kölleda und Tennstedt als Verfolgungsorte von 1303 (NM01, Nr. 70, NM01, Nr. 69 und NM01, Nr. 71), sodass keineswegs von einer ganz Thüringen erfassenden Verfolgung die Rede sein kann.

Überlieferung:

Dresden, SLUB, Hs. 1a, S. 341 f.; S. 341 f., Abschr. (1460); digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/2897/1/0/ (Digitalisat), dt., Papier; zu weiteren Abschriften vgl. die Einleitung zur Edition von Liliencron.

  • Düringische Chronik des Johann Rothe, S. 560 f.
  • Lämmerhirt, Juden (2007), S. 17;
  • Lämmerhirt, Ritualmordlegende (2007), S. 754;
  • GJ 2, 2, S. 875 f.

Kommentar:

Zu den Verfolgungen von Weißensee vgl. auch TW01, Nr. 78, TW01, Nr. 79 und TW01, Nr. 77. Der um 1360 in Creuzburg geborene Johannes Rothe ist von 1384 bis 1397 als Ratsschreiber in Eisenach nachgewiesen. Er war auch Priester und hatte in den neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts Vikarien an Eisenacher geistlichen Institutionen inne. Um 1404 trat er in das Augustinerchorherrenstift St. Maria in Eisenach ein, wo er 1421 als Leiter der Stiftsschule bezeugt ist. Im Jahre 1434 verstarb der Autor zahlreicher Schriften zu unterschiedlichen Themenbereichen, darunter auch dreier historiographischer Werke. Seiner 1409 abgeschlossenen Eisenacher Chronik, in deren Mittelpunkt die thüringischen Landgrafen stehen, ließ Rothe eine zwischen 1407 und 1418 angefertigte Thüringische Landeschronik sowie eine 1421 vollendete Thüringische Weltchronik folgen; zu Rothes Leben und Werk vgl. Honemann, [Art.] Rothe (1992); Weigelt, Rothe (1990); Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 120-124. Während die Eisenacher Chronik die Judenverfolgung von Weißensee nicht erwähnt, widmet die Thüringische Landeschronik dem Ereignis einen Satz, der im Wesentlichen auf den Mitteilungen der Cronica s. Petri Erfordensis moderna beruht, darüber hinaus allerdings davon ausgeht (TW01, Nr. 78), dass die Juden daraufhin in ganz Thüringen verfolgt worden seien: In deme selben jare so totten die juden zu Wyßensehe eynes borgkmannes son, genant Conradt, in dem wingarten heymelichen, unde darumbe wurden die juden geslahen obir al Doringer landt (Johannes Rothe. Thüringische Landeschronik, S. 73). In seiner etwa 1501 abgeschlossenen, Memoriale genannten Chronik übernahm der Erfurter Kleriker Konrad Stolle die Passage in lateinischer Übersetzung: Eodem anno judei in Wissensee occiderunt occulte filium ejusdem (Sic!) castrensis nomine Conradum; propter quod malum judei per totam terram occisi sunt (Memoriale - thüringisch-erfurtische Chronik von Konrad Stolle, S. 473); zu Konrad Stolle vgl. neben der Einleitung der Edition Honemann, [Art.] Stolle (1995); Bünz, Biographie (2000); Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 107 f. Eine stark verkürzte Fassung der Darstellung Rothes in der Thüringischen Weltchronik bietet Johannes Lindner, Dominikaner in Pirna, in seinem 1530 abgeschlossenen Onomasticum mundi generale: MCCCIII martirten di juden aldo des burgmannes son Conrad, dorchstochen yn mit subeln, phrimen, olen obirn ganczen leib, fingen sein blut in ein gefese, taten ym seine cleider wider an und hingen yn an einen gurtel in eine weynpresse an dem sehe, do lies der lantgrafe alle juden in Duringen fahen und totslaen (Excerpta Saxonica, Misnica et Thuringiaca ex monacho Pirnensis onomastico, Sp. 1610); vgl. zu Johannes Lindner Müller, Onomasticum (1903); Hofmann, Mönch (1904).

(jmü.) / Letzte Bearbeitung: 06.01.2017

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2015, TW01, Nr. 80, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/TW01/TW-c1-004r.html (Datum des Zugriffs)

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