Von Werra und Leine bis zum Bober: Quellen zur Geschichte der Juden in Thüringen und Sachsen

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Thüringen/Sachsen 1, Nr. 77

1303 Februar 24 - April 30

Die Passio Conradi, deren ursprüngliche Aufzeichnung auf den 30. April 1303 (Hec predicta de vita huius sanctissimi martyris et passione venerabili anno domini millesimo tricentesimo tercio in vigilia beatorum apostolorum Philippi et Iacobi sunt conscripta) datiert (1), berichtet Folgendes zum Judenpogrom von Weißensee: Der heiligste Knabe und Märtyrer Konrad, Sohn des miles Berthold genannt von Sömmerda, Kastellan in Weißensee, und Gertruds von Berka, die bereits einige Jahre zuvor verstorben war (sanctissimus puer et martir Conradus Bertoldi militis dicti de Sumerde castellani in Wizzense et Gertrudis de Berca, antea annis aliquot defuncte, filius) widmete sich schon von Kindesalter an der Verherrlichung Gottes, bis er im 16. Lebensjahr (sextodecimo etatis sue anno) das Martyrium erlitt. Am Fest des Apostels Matthias, sechs Tage vor den Kalenden des März, das in diesem Jahr auf den Sonntag Invocavit fiel (anno enim Incarnationis domini millesimo tricentesimo tercio in die beati Mathie apostoli sexto kalendas Marcii, que tunc in dominica, qua cantatur Invocavit, secundum anni circulum habebatur) (2), verließ Konrad abends das Haus seines Vaters und kehrte nicht zurück. Am nächsten Tag ließ der Vater in Burg und Stadt (per totam civitatem et castrum) vergeblich nach ihm suchen, in den folgenden Tagen auch in benachbarten Städten und befestigten Siedlungen (villae et opida). Erst 24 Tage später, 14 Tage vor den Kalenden des April, am Dienstag nach Laetare (Post hec vero vicesima quarta die quartodecimo kalendas aprilis, tercia feria post Letare) (3), fanden Bruder Konrad von Friedberg, ein Winzer des Johanniterordens (frater Conradus de Vrideberch vinitor dominorum fratrum ordinis sancti Johannis), und ein Diener (servus) Konrad erhängt in einer Schutzhütte (propugnaculum) in einem Wingert der Grafen von Honstein, der zu der Zeit von den Johannitern bearbeitet wurde (… vineam nobilium virorum dominorum comitum de Honsteyn, quam tunc in cura sui laboris habebant, …). Der sofort über den Fund informierte Vater begab sich, nachdem in seinem Auftrag Verwandte und Freunde sich von dem mutmaßlichen Selbstmord des Jungen überzeugt hatten, am nächsten Tag zu Landgraf Albrecht von Thüringen (Albertus lantgravius), um mit ihm das weitere Vorgehen zu besprechen. Dieser kündigte an, dass er in Kürze fähige Ratgeber zur Untersuchung der bedeutenden Angelegenheit vor Ort nach Weißensee entsenden werde (… quod suos consiliatos potentes ad eventum huius magne rei oculatim (4) examinandum Wizzense transmittere in brevi vellet). In der Zwischenzeit war die gesamte Bevölkerung der Stadt und des Umlands in Massen zusammengeströmt, um den Körper des Knaben in Augenschein zu nehmen (Interim autem populus civitatis et vicine universus ad cernendum corpus sanctissimi pueri cathervatim confluebat, …). Dort bekamen sie einen lebendig wirkenden Leichnam zu Gesicht, der Wohlgeruch verbreitete und dessen Antlitz verschiedene Farbtöne annahm. Als sich dann kleine Wunden unter den Finger- und Fußnägeln sowie an anderen Stellen des Körpers fanden, wurde der Verdacht, den man gegen die Juden hegte, zur Gewissheit (Quibus visis indiciis homines communiter omnes suspicionem, quam de Iudeis de ipsius interfectione habebant, in credulitatem firmissimam convertebat). Auch wurden einge ältere Frauen der Stadt (bone matrone civitatis) sogleich von ihren Gebrechen geheilt. Am folgenden Sonntag Judica (sequenti dominica, qua cantatur Iudica) (5) schickte Landgraf Albrecht seinen Sohn, Markgraf Friedrich, zur Untersuchung der Angelegenheit von der Wartburg nach Weißensee (… venerabilis dominus Albertus lanthgravius filium suum dominum Fridericum marchionem illustrem principem ad huius rei plenariam experienciam, sicut dixerat, de Warperch Wizzense transmittebat, …). (6) Als Friedrich den Leichnam in der Hütte in Augenschein nahm, erkannte er, dass es sich um einen Märtyrer handelte und sagte: "Heiliger Herr Konrad, wir versprechen Euch, dass wir in allen unseren Befestigungsanlagen, die wir bereits besitzen und auch in denjenigen, die wir durch Gottes Vorsehung in Zukunft besitzen werden, niemals einen Juden überleben lassen werden" (Domine sancte Conrade, nos vobis fideliter promittimus, quot in omnibus municionibus, quas iam possidemus et eciam si aliquas alias domino disponente possessuri erimus, nunquam aliquem Iudeum supervivere faciemus). Durch einen Boten wurde Landgraf Albrecht Bericht erstattet, der sofort die Abhaltung eines Gerichtsverfahrens gegen die Juden unter Vorsitz seines Sohnes anordnete. Noch bevor der Bote mit der Nachricht am folgenden Tag, Mariä Verkündigung (feria secunda proxima post Iudica, in qua tunc dies Annunciacionis gloriose virginis Marie) (7), zurückgekehrt war, hatte der Markgraf am Morgen die Tore der Stadt schließen lassen, als das gesamte Volk bei einer am Auffindungsort Konrads abgehaltenen Predigt weilte, und befahl, die Juden, die grimmigsten Feinde des Kreuzes Christi und ungläubigsten Widersacher seiner ehrwürdigsten Mutter, der Jungfrau Maria (iudei, inimici crucis Christi sevissimi et excellentissime genetricis sue virginis Marie hostes perfidissimi), aus ihren Häusern mit ihrer familia ehrenhaft durch tüchtige Männer zur Burg führen zu lassen (… de singulis suis domibus cum tota sua familia honeste per quosdam probos ad castrum duci …), wo sie alle in einer Kammer im Obergeschoss (caminata inferioris cenaculi) eingeschlossen wurden. Als der Bote gegen Mittag die Nachricht überbrachte, ordnete der Markgraf auf Rat seiner Getreuen an, dass die Juden bis auf wenige Ausnahmen gefesselt zum Gerichtsort (locus supplicii) getrieben werden sollten. Als einige bereits gefesselt waren, verteidigten sich einige, die noch in der Kammer waren, mit gezückten Schwertern (gladiis evagnatis) nach ihren Möglichkeiten tapfer. Dabei verwundeten sie den Knecht Heinrich, genannt von Kranichborn (Cranichporn), so sehr, dass er am nächsten Tag starb. Auch einen armen Christen (christianus pauper), der dort gefangen war, ermordeten sie. Viele töteten auch, wie man sagt (ut dicitur), ihre eigenen Kinder in der Kammer, um ihnen die Taufe zu ersparen, indem sie ihnen die Kehlen duchschnitten. Alle diese ungläubigen Juden (iudei omnes perfidissimi) wurden durch Pfeile und andere Geschosse der bewaffneten Männer getötet, bis auf zwei junge Bedienstete und eine Magd (preter duos pueros servulos et unam ancillam mulierem), die sich taufen ließen. Die 144 Leichen (quorum numerus ad duas sexagenas et viginti quatuor) (8) wurden auf Karren gezerrt, vor die Stadt gebracht und dort in einem Haus verbrannt. Der Leichnam des Märtyrers wurde am nächsten Tag unter Beteiligung des Markgrafen feierlich in die Stadt eingeholt und inmitten der Peterskirche (9) aufgebahrt. Am Montag nach Palmsonntag (feria secunda post diem palmarum proxima) (10) wurde dem Leichnam die rechte Hand als Reliquie abgetrennt und der Körper mitten in der Kirche begraben. (11) In den ersten vier Wochen nach seiner Auffindung hatte er bereits 50 Wunder bewirkt (Haec autem et alia miraculorum signa in primis quatuor ebdomadis a die invencionis sue per ipsum facta sunt numero quinquaginta).

Hec predicta de vita huius sanctissimi martyris et passione venerabili anno domini millesimo tricentesimo tercio in vigilia beatorum apostolorum Philippi et Iacobi sunt conscripta. Tu autem … (12)

Es folgen die Aufzeichnungen der von Erzbischof Gerhard von Mainz (1288-1305) eingesetzten Kommission zur Untersuchung der von Konrad gewirkten Wunder vom 6., 7., 20. und 21. September 1303 (fol. 117r-125v). Darin inseriert ist auch eine Urkunde Markgraf Friedrichs vom 21. August 1303 (fol. 120r-121r); vgl. TW01, Nr. 82.

(1) fol. 117r.

(2) 1303 Februar 24.

(3) 1303 März 19.

(4) In der Handschrift steht fälschlicherweise ocultatim statt oculatim.

(5) 1303 März 24.

(6) Sowohl die Beteiligung Landgraf Albrechts (des Entarteten) von Thüringen als auch Markgraf Friedrichs (des Freidigen) von Meißen (1291-1323; von 1307 bis 1323 Landgraf von Thüringen) lässt sich durch andere zeitgenössische Quellen nicht erhärten. Explizit auszuschließen ist deren Beteiligung allerdings auch nicht, wie dies Keller, Kammerknechte (2000), S. 283, Anm. 39, unter Verweis auf Gretschel, Geschichte 1 (1841), S. 251, für Friedrich annimmt. Dort findet sich jedoch kein entsprechender Beleg. Sollten die Juden von Weißensee allerdings den Kammerknechten des Reiches zuzurechnen sein, die König Rudolf I. am 9. Mai 1287 dem Mainzer Erzbischof Heinrich von Isny (1286-1288) übertrug (TW01, Nr. 41), nachdem er ihn bereits am 29. März 1287 zum Reichsverweser in Meißen ernannt hatte (TW01, Nr. 38), könnte der möglicherweise an das Reich zurückgefallenen Herrschaft über die außerordentlich mitgliederstarke Weißenseer Judenschaft eine nicht unbedeutende poltische Rolle in der Auseinandersetzung zwischen König Albrecht I. und Markgraf Friedrich dem Freidigen um die Markgrafschaft Meißen zugekommen sein.

(7) 1303 März 25. Das Nürnberger Memorbuch gibt als Datum der Verfolgung zuverlässig den 14. März 1303 an (NM01, Nr. 70).

(8) 1303 April 1.

(9) Die Zahl von 144 Toten liegt etwas über den 127 überwiegend namentlich genannten Opfern von Weißensee im Martyrologium des Nürnberger Memorbuchs (NM01, Nr. 70). Es könnte sich aber um die Gesamtsumme der Opfer bei den von Weißensee ausgehenden Pogromen handeln, denn für Gotha sind acht weitere getötete Juden belegt (NM01, Nr. 69). Zu Kölleda und Tennstedt macht das Memorbuch keine numerischen Angaben (NM01, Nr. 71). Eine Zahl von insgesamt 9 Opfern scheint allerdings nicht unrealistisch.

(10) Die Johanniterkommende in Weißensee war im Besitz des Patronatsrechts über die Pfarrkirche St. Peter; vgl. Lohmann, Ludowinger (1998), S. 85.

(11) Im Jahre 2013 sind im Zuge von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche von Weißensee im Mittelgang des Kirchenschiffs die Gebeine des 1303 unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen und schon bald als heilig verehrten Knaben ausgegraben worden; vgl. www.thueringer-allgemeine.de/startseite/detail/-/specific/Gebeine-des-Guten-Konrad-in-Stadtkirche-Weissensee-entdeckt-423266037 [Zugriffsdatum: 3. November 2015]

(12) An dieser Stelle bricht der Text ab.

Überlieferung:

Erlangen, UniBib, Ms. 423, fol. 105r-117r, lat., Perg.

  • Kühne/Mötsch, Heiliger 1 (2012), S. 24-32;
  • Kühne/Mötsch, Heilger 2 (2013), S. 7-12 (dt. Übers.).
  • Lämmerhirt, Anfänge (2015), S. 75 f.

Kommentar:

Zu den Verfolgungen von Weißensee vgl. auch TW01, Nr. 78, TW01, Nr. 79 und TW01, Nr. 80. Eine wohl um 1500 angefertigte humanistische Überarbeitung des Textes erschien 1508 sowohl in lateinischer als auch in deutscher Sprache im Druck. Die Werke von 1508 dienten als Vorlagen für spätere Druckausgaben; vgl. Kühne/Mötsch, Heiliger 1 (2012), S. 7 f. und 15-19 (synoptischer Abdruck der beiden Texte in Kühne/Mötsch, Heiliger 2 (2013), S. 23-35). Lämmerhirt, Ritualmordlegende (2007), S. 755-759, und Möncke, Konrad (2006), S. 277, die sich mit der deutschen bzw. der lateinischen Druckfassung der Legende auseinandersetzten, lag der Text der Erlanger Handschrift des 14. Jahrhunderts noch nicht vor.

(jmü.) / Letzte Bearbeitung: 06.01.2017

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2015, TW01, Nr. 77, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/TW01/TW-c1-004u.html (Datum des Zugriffs)

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