Zweites Typar des Trierer Juden Muskinus (Mosche ben Jechiel)
Das 1988 bei Grabungsarbeiten entdeckte Typar des 1336 verstorbenen Trierer Juden Muskinus ist der einzige erhaltene Siegelstempel eines Juden in Aschkenas. Nach dem Tod des in der Finanzverwaltung des Trierer Erzbischofs Balduin tätigen Siegelführers wurde er zerschlagen und diesem höchstwahrscheinlich mit ins Grab gegeben.
vor September 1336
Die vorgestellte Quelle befindet sich im Teilcorpus „Judensiegel in Aschkenas (1273–1347)“ unter der Nummer JS01, Nr. 33.
Überl.: Trier, RLM, Inv.-Nr. 93, Nr. 160; lat. und hebr.
Umschrift: links: * S'(IGILLVM) MVSKINI . IVD(EI) [ ]; rechts: [ ] [משה ב׳׳ר יחי[אל (Moses, Sohn Herrn Jechi[els] [ ]).
Beschreibung: Das Typar wurde zerschlagen, das untere Drittel ist verloren; Dm: 23 mm (Typar); Material: Messing; Form (des Siegelfeldes): rund.
Kommentar:
Das zerschlagene Typar wurde 1988 bei den archäologischen Ausgrabungen während eines Tiefgaragenbaus zwischen 1987 und 1992 am Trierer Viehmarkt gefunden und war sehr wahrscheinlich einer der sieben dort bestatteten Personen mit ins Grab gelegt worden. (1) An dieser Stelle befand sich der mittelalterliche Friedhof der jüdischen Gemeinde, worauf auch die westlich von ihm gelegene und von der Antoniusstraße abgehende Jüdemergasse („Judenmauerstraße“, heute: Jüdemerstraße) an der heutigen Kirche St. Antonius hindeutet. Es spricht vieles dafür, dass die Kirche auf einem Teil des jüdischen Friedhofes errichtet wurde, der 1349 während der Pogrome zur Zeit des Schwarzen Todes einer Schändung zum Opfer fiel. 1406 ist der Vorgängerbau der Antoniuskirche erstmals als nuwe capelle in Judemer gaßen belegt. Auf eine Nutzung des Friedhofes durch die Juden in Trier nach den Pestpogromen deutet der jüngste überlieferte Grabstein von 1373 hin. Die Vertreibung der Juden aus Trier geschah schließlich 1418/19. Nur wenige der ursprünglichen Grabsteine sind heute noch bekannt; zudem sind allesamt spoliiert. Der Friedhof existierte wahrscheinlich schon zur Zeit der ältesten Nennung der Trier Judengemeinde zu 1066. Eine Erstnennung der Ruhestätte in den Quellen stammt aus dem 12. Jahrhundert. Zur Zeit seiner Anlegung befand sich der jüdische Friedhof noch außerhalb der bebauten Flächen (2), wie es üblich war. (3)
Muskinus, der Inhaber des Stempels, war in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts einer der einflussreichsten Juden des Erzstiftes und seit 1323 bis zu seinem Tod im September 1336 als negociator (4) in der Finanzverwaltung des Trierer Erzbischofs Balduin von Luxemburg (1307–1354) tätig. (5) Ihm unterstand die erzbischöfliche Zentralkasse, deren Buchungen in hebräischer Sprache verfasst und am Ende des Rechnungsjahres ins Lateinische übertragen wurden. Unterstützt wurde Muskinus dabei zeitweise von seinem Knecht Baruch. In Gemeindeangelegenheiten trat er zudem vielfach als Parnas (Gemeindeführer) der Juden Triers hervor. Nach seinem Tod, vielleicht auch schon seit Ende August 1336, übernahm der ebenfalls äußerst einflussreiche Trierer Jude Jakob Daniels (JS01, Nr. 34) seine Position als Finanzverwalter des Erzbischofs in einer Zeit, in der sich die finanzielle Lage der Aschkenasen im regnum teutonicum verschlechterte und die hohe Abhängigkeit der Juden von ihrem erzbischöflichen Herrn sowie dem Wohlwollen der Stadtgemeinde besonders deutlich hervortrat.
Das Typar wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit nach Muskinus' Tod im September 1336 zerschlagen und ihm mit ins Grab gegeben. Die Praxis der Typarzerschlagung ist die typische Vorgehensweise bei Ableben des Siegelführers, doch sind auch bei Juden Siegelübernahmen zu beobachten, d. h., die Frau oder die Kinder des Verstorbenen übernahmen dessen Siegel ohne es zu ändern. (6) Die Beigabe des zerschlagenen Typars in das Grab des Verstorbenen ist aus christlichen Gräbern bekannt (7) und durch den Fund auch für Juden wahrscheinlich.
Der Siegelstempel ist aus Messing (8) und hat am oberen Ende seines Schaftes eine Öse in der Form eines Dreipasses; sie erlaubte dem Siegelführer eine Befestigung des Stempels mithilfe von Schnüren, Ketten oder Lederriemen für das Tragen um den Hals oder am Gürtel. (9) Siegelumschrift und -bild sind kunstvoll gearbeitet und zeigen zahlreiche Details, was in dieser hohen Qualität nur bei wenigen Judensiegeln beobachtet werden kann. Die Größe des Siegelfeldes ist typisch für die der privaten Judensiegel (20–30 mm).
Die oben beschriebene Siegelumschrift ist aufgrund der Typarzerschlagung nur fragmentarisch erhalten, weshalb die bilinguale Umschrift jeweils am Ende beider Seiten verloren ist. Die lateinische Umschrift endete wahrscheinlich mit der Ortsnennung, also wohl TREV(ERENSIS), die hebräische Seite hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine der üblichen Segensformeln, die dem Patronym folgten. Es handelt sich bei Muskinus' Siegel zweifellos um eine hochrepräsentative Umschrift, was mit der Position des Siegelführers in Verbindung steht, war er doch als Finanzverwalter Balduins (lateinische Seite) und als Parnas der jüdische Gemeinde (hebräische Seite) tätig. Hier zeigt sich das gesteigerte Repräsentationsbewusstsein einer jüdischen Elite, die auch im Siegelbild ihren Ausdruck findet. (10)
Das Siegelbild zeigt einen stilisierten Lebensbaum mit Wurzeln und Ästen im Rundpass. Von ihm ernähren sich rechts und links ein Paradiesvogel. Innerhalb des Rundpasses sind die Flächen mit weiteren Drei- und Vierpässen geziert. Die Motivik ist nicht ungewöhnlich für Judensiegel: Lebensbäume gehören nicht zu den häufigsten Motiven, sind aber vielfach belegt. (11) Auch die Paradiesvögel sind beliebte Motive auf Judensiegeln. (12) Bemerkenswert ist, dass es sich bei Muskinus' Siegelbild nicht um Motive handelt, die als spezifisch jüdisch bezeichnet werden können; vielmehr sind sie Ausdruck eines christlich-jüdischen Siegelbilderkanons, denn Lebensbäume und Paradiesvögel sowie beide in Kombination sind von Siegelbildern christlicher Siegelführer gut bekannt. (13) Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Lebensbaum auf Stellen der Tora verweist (14) und sie als Lebensquelle darstellt (15). Insbesondere aber messianische Symbole werden mit Muskinus' Siegelbild angesprochen, denn der Lebensbaum ist auch ein Paradiesbaum und die Vögel in Muskinus' Siegebild sind Paradiesvögel. (16)
Anm.:
(1) Diese und die folgenden Angaben nach Clemens, Beobachtungen (2004), S. 169.
(2) Zur Trierer jüdischen Gemeinde im Mittelalter und ihrem Friedhof vgl. Haverkamp, Juden (1973); Ders., Juden im mittelalterlichen Trier (1979); Ders., Juden inmitten der Stadt (1996).
(3) Vgl. Haverkamp, Friedhöfe (2011), S. 72 f.
(4) Koblenz, LHA, Best. 1 A, Nr. 817 (1334 IV 7).
(5) Zu Muskinus und dessen Position in der Finanzverwaltung vgl. Haverkamp, Erzbischof (1985); Ders., Juden im mittelalterlichen Trier (1979).
(6) Vgl. Kittel, Siegel (1970), S. 159. Zu einer Siegelübernahme aus dem vorliegenden Corpus der Judensiegel vgl. das Siegel des Regensburger Juden Jakob ben Peter, der das Siegel seines Vaters Gnendel ohne Veränderung vorgenommen zu haben an einer Urkunde von 1302 weiterführte: (JS01, Nr. 4); vgl. Keil, Judensiegel (1991).
(7) Vgl. Meier, Archäologie (2002), S. 205–210.
(8) Messing und Bronze waren die häufigsten Werkstoffe, aus denen die mittelalterlichen Typare gefertigt wurden; vgl. Ilgen, Sphragistik (1912), S. 18; Stieldorf, Siegelkunde (2004), S. 64.
(9) Vgl. Ilgen, Sphragistik (1912), S. 19; Philippi, Siegel (1914), S. 5; Rindlisbacher, Stellen (1969), S. 37; Kittel, Siegel (1970), S. 132; Stieldorf, Siegelkunde (2004), S. 63.
(10) Vgl. auch das Siegel von Muskinus' Nachfolger als erzbischöflicher Finanzverwalter Jakob Daniels: JS01, Nr. 34.
(11) Vgl. das Siegel des Schaffhausener Juden Jakob (JS01, Nr. 41) von 1343 III 27.
(12) Vgl. das Siegel des Schaffhausener Juden Jakob (JS01, Nr. 41) von 1343 III 27 und des Wittlicher Juden Salman (JS01, Nr. 18) von 1329 III 29.
(13) Vgl. Stieldorf, Frauensiegel (1999), S. 521 f., mit Anhang Abb. 62: Das Siegel Ponzettas von Virneburg (1275); Friedenberg, Seals (1987), S. 158: Das Siegel Pierres de Boisses, Domherr zu Levroux (1264).
(14) Künzl, Grabkunst (1999), S. 207, verweist auf antike Darstellungen von Palmen als Lebensbäume, die auf Ps. 92,13 anspielen: „Der Gerechte gedeiht wie eine Palme.“ In diesem Kontext sind wahrscheinlich auch (aufgeblühte) Lilien zu sehen, was gegen die Auffassung von Stieldorf, Siegelkunde (2004), S. 87, spricht, nach der „manche jüdische Siegler […] mit Rose oder Lilie – oder anderen Blumen – auf Symbole zurück[griffen], die gerade in der Marienikonologie eine große Rolle spielten.“ Auch hier zeigt sich wiederum der gemein christlich-jüdische Siegelbilderkanon.
(15) Vgl. Stähli, Synagogenkunst (1988), S. 53 f. (mit Abb.). Die Tora als Quelle des Lebens wird thematisiert in Hld 4,15 und Spr 4,22.
(16) Zum Paradiesbaum vgl. Künzl, Grabkunst (1999), S. 207; Diamant, Sphragistik (1929), S. 101. Zu den Paradiesvögeln vgl. auch den Abdruck eines früheren Typars Muskinus' von 1330 V 11 (JS01, Nr. 21).