Von Werra und Leine bis zum Bober: Quellen zur Geschichte der Juden in Thüringen und Sachsen

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Thüringen/Sachsen 1, Nr. 19

1280

Der unbekannte Autor des Liber cronicorum Erfordensis schreibt zum Jahre 1280 (1): Im Monat Juli desselben Jahres (Eodem anno mense julio) lebte in der thüringischen Stadt Eisenach (in Thuringia in civitate Ysenach) ein junges Mädchen namens Margarete (Margaretha), das beide Eltern verloren hatte. Häufig besuchte es zum Spielen die Tochter der Nachbarin, einer verderbenbringenden Frau (mulier pestifera). Weil unter den Juden, wie man sagte (dicebatur), auch gewisse arme, bubones genannte Vagabunden sind (quosdam pauperes vagabundos habent inter se, quae bubones vocant), werden diese zur Erledigung diverser Aufträge in verschiedene Regionen geschickt. Jene Juden begehrten, so sagt man (ut dicitur), das Blut von Christen. Mit dem Ziel, das Mädchen zu töten, seien sie mit der Nachbarin übereingekommen, dass diese ihnen das Mädchen ausliefern sollte. Als sich Margarete zu einem vereinbarten Zeitpunkt im Haus der Nachbarin befand, wurde dieses von allen Seiten verriegelt, und die Juden stürzten mit gezückten Schwertern und Messern auf das Mädchen ein. Sämtliche Venen öffneten sie ihr und fingen ihr Blut in einem großen Gefäß auf. Nachdem sie so ihr Leben ausgehaucht hatte, brachte man sie in einen Nachen und versenkte sie mit Steinen beschwert heimlich im Fluss. Schon bald darauf wurde auf göttlichen Wink der Körper von Fischern gefunden und an Land geschafft. Dort kam eine Menschenmenge beiderlei Geschlechts gemeinsam mit dem Markgrafen herbei, und durch die Anzeichen der Wunden wurde die grausame Tat offenbar. Anwesend war auch die Tochter der Verräterin (traditrix), die den schrecklichen Tod ihrer Freundin beklagte und hinzufügte, dass dieselbe von den ungläubigen Juden umgebracht worden sei (addensque ipsam a perfidis iudeis interemptam). Als der Markgraf dies hörte, ließ er unverzüglich die Tore der Stadt schließen und befahl denselben Juden, mit den Angeklagten (ipsosque iudeos cum reis) (2) vor ihm zu erscheinen. In deren Anwesenheit begann der Leichnam des Mädchens aus allen Wunden zu bluten. Als man die Juden wegführte, hörte der Blutfluss auf. Die Juden wurden ein zweites Mal herbeigeführt, und der Körper des toten Mädchens reckte daraufhin beide Hände in die Höhe, und sie bekam ein rötliches Antlitz, so lange wie man braucht, um 50 Psalmen aufzusagen. Nachdem die zwischenzeitlich wieder abgeführten Juden ein drittes Mal herbeigerufen worden waren, erhob die Verstorbene mit fahlem Gesicht die Hände erneut. Der Markgraf erkannte die Anzeichen und ließ die verderbenbringende Frau gemeinsam mit vier jüdischen Angeklagten rädern und mit verschiedenen Martern abschlachten. Die übrigen Juden aber sind alle am Galgen gerichtet worden.

(1) Anno domini 1280 (S. 234).

(2) Offenbar wurden alle Juden herbeizitiert, von denen vier (siehe unten im Text) konkret der Tat beschuldigt wurden.

Überlieferung:

Leiden, UniBib, BPL 31, ##, Abschr. (1456/57), lat., Papier; zu weiteren Abschriften vgl. die Einleitung der Edition von Holder-Egger.

  • Liber cronicorum Erfordensis, S. 773-775;
  • Liber cronicorum Erfordensis (Wenck), S. 235-237.
  • Lämmerhirt, Ritualmordlegende (2007), S. 743 f.;
  • Lämmerhirt, Juden (2006), S. 13 f.;
  • GJ 2, 1, S. 197;
  • Neufeld, Juden 1 (1917), S. 58.

Kommentar:

Der unbekannte, möglicherweise dem Erfurter Dominikanerkonvent angehörende Autor des bis 1310 reichenden Liber cronicorum Erfordensis offenbart einen Hang zu Wundergeschichten, mit denen er seine vorwiegend thüringischen Vorlagen, insbesondere die Reinhardsbrunner Chronik, ausschmückte. Dabei stützte er sich vorwiegend auf Heinrich von Herford; vgl. die Einleitungen zu den Editionen sowie Patze, Landesgeschichtsschreibung (1968), S. 103 f. Die vorliegende Ritualmordfabel hat der Schreiber mit geringen Abweichungen wohl dem Bonum universale de apibus Thomas' von Cantimpré entnommen, der sein Werk um 1259 begann und vor seinem Tod (um 1270) vollendete (Thomae Cantipratani miraculorum et exemplorum libri, S. 304 f.; Thomae Cantipratani bonum universale de apibus, S. 303 f.). Zu Thomas von Cantimpré und seinem Werk vgl. Hünemörder/Ruh, [Art.] Thomas von Cantimpré (1995); Cluse, Studien (2000), S. 321-328; zur Verwendung von Exempeln bei Thomas und weiteren Mendikanten vgl. Schürer, Exemplum (2005). Nach Thomas soll der angebliche Ritualmord 1271 in Pforzheim stattgefunden haben; vgl. auch Platelle, Image (1983), S. 303 f. Aufgrund eines Eintrags im Martyrologium des Nürnberger Memorbuchs zum 15. Juli 1267 [20. Tammus 5027] ist eine Judenverfolgung in Pforzheim gesichert (Martyrologium Nürnberger Memorbuch, S. 25 und 128-131), für die die bei Thomas erwähnte Legende möglicherweise eine nachträgliche Rechtfertigung und zugleich ein Muster für weitere derartige Beschuldigungen bilden sollte; vgl. Regesten zur Geschichte der Juden im Fränkischen und im Deutschen Reiche, Nr. 728, S. 306-308. Der Martyrologeintrag bezieht sich auf drei Juden, darunter ein Rabbiner, die sich selbst töteten und daraufhin aufs Rad geflochten wurden. Eine bereits mehrfach edierte, verlorene Inschrift auf einem Steinsarg in der Schlosskirche zu Pforzheim erwähnt eine Margarete, die am Freitag, dem 1. Juli 1267, von Juden ermordet worden sei: Margaretha a judeis occisa obiit feliciter anno domini MCCLXVII kalendas iulii feria sexta (Martyrologium Nürnberger Memorbuch, S. 129). Der Autor des Liber cronicorum verlegte die Geschichte kurzerhand nach Eisenach und datierte sie auf 1280. Der Name des angeblich in Eisenach getöteten Mädchens stimmt zudem mit demjenigen der Pforzheimer Inschrift überein, ist allerdings nicht bei Thomas von Cantimpré überliefert, so dass möglicherweise an eine gemeinsame Vorlage zu denken ist. Von Thomas von Cantimpré respektive der Vorlage übernahm der Autor des Liber cronicorum auch die Person des namentlich nicht genannten Markgrafen als Richter über die Juden (bei Thomas war es der Markgraf von Baden als Stadtherr von Pforzheim). Markgraf von Meißen war zu dieser Zeit Heinrich der Erlauchte (bis 1288), der allerdings im Zuge einer Erbteilung die Landgrafschaft Thüringen bereits 1265 an seinen Sohn Albrecht den Entarteten abgegeben hatte. Demnach hätte der Landgraf den Prozess gegen die Juden führen müssen. Im Unterschied zu Pforzheim ist in Eisenach für diese Zeit auch keine Judenverfolgung durch einen Martyrologeintrag überliefert. Es handelt sich wohl um eine rein fiktive Übernahme einer bestehenden Vorlage, um das Exempel aufgrund der Nähe zu handelnden Personen und bekannten Orten anschaulicher zu machen. Erstaunlicherweise ist auch das zweite von Thomas von Cantimpré überlieferte Exempel zu Juden, betreffend eine vor 1265 stattgefundene Konversion im Westen des Reiches, von Hermann Korner in seiner Chronica novella mit leichten Abweichungen als Vorlage für seine Schilderung einer angeblich im Jahre 1280 in Halberstadt vollzogenen Konversion benutzt worden (###CP1-c1-029c###).

(jmü.) / Letzte Bearbeitung: 20.05.2019

Zitierhinweis

Corpus der Quellen zur Geschichte der Juden im spätmittelalterlichen Reich, hg. v. Alfred Haverkamp und Jörg R. Müller, Trier, Mainz 2015, TW01, Nr. 19, URL: https://www.medieval-ashkenaz.org/TW01/TW-c1-004t.html (Datum des Zugriffs)

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